« | Home | »

The Ordinaries

Deutschland 2022, Regie: Sophie Linnenbaum, mit Fine Sendel, Sira-Anna Faal, Jule Böwe, 124 Min., FSK: ab 12

Der geniale Abschluss-Film von Regisseurin Sophie Linnenbaum dringt mit einer fantastischen Geschichte ins Räderwerk der „Film-Welt“ vor. Die Unterdrückung der „Herausgeschnittenen“ in einer Welt aus Haupt- und Nebenfiguren erzählt von Ausgrenzung und dem Erwachsenwerden.

Paula Feinmann (Fine Sendel) steht vor einem großen Schritt in ihrem jungen Leben, bald hat sie an der „Hauptfiguren-Schule“ die Prüfung zur Hauptfigur. Sie ist Klassenbeste im Klippenhängen, beherrscht Zeitlupe und panisches Schreien im Schlaf – nur das Erzeugen emotionaler Musik mit dem Herzleser an der Brust will ihr einfach nicht gelingen. Noch lebt sie unter den Nebenfiguren, die wie ihre alleinerziehende Mutter blass aussehen und bekleidet sind, nur wenige Sätze haben und ein eintöniges Leben. Ihre beste Freundin Hannah (Sira-Anna Faal) stammt hingegen aus einer Familie von Hauptfiguren. Dort ist zuhause alles farbig und voller Dialog, dauernd wird gesungen und getanzt.

Paula sucht im Archiv vergeblich nach Flashbacks des verstorbenen Vaters, der eine heldenhafte Hauptfigur gewesen und bei „dem Massaker“ gestorben sein soll. Hannahs Hausmädchen Hilde (Henning Peker), als mürrischer Mann eindeutig eine „Fehlbesetzung“, zeigt Paula, dass es noch ein anderes Archiv und eine andere Welt gibt: Die Zone der „Outtakes“, der Herausgeschnittenen, ist ein Elendsviertel voller fehlerhafter Figuren. Bei einer Wirtin kommen die Lacher vom Band völlig deplatziert, identische Doubles trinken zusammen ein Bier, ein alter Bekannter von Paulas Vater hat einen verpixelten Mund, er wurde zur Sprachlosigkeit zensiert. Schließlich erfährt Paula, dass „das Massaker“ hier als Revolution der Outtakes angesehen wird. Sie wehrt sich nun selbst gegen die unmenschliche Klassengesellschaft. Behilflich ist ihr der sympathische junge Simon (Noah Tinwa), der an Filmsprüngen leidet, also nur lückenhaft auftritt, und illegal Geräusche verkauft.

Es ist fantastisch, wie Sophie Linnenbaum in ihrem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf aus dem Gegeneinander von Haupt- und Nebenfiguren eine eigene Welt schafft: Kostüme, Ausstattung und Bildgestaltung brauchen den Vergleich zu großen Hollywood-Produktionen nicht zu scheuen. Tatsächlich muss man immer wieder an den dystopischen „Brazil“ oder die Medien-Satire „Die Truman Show“ denken und vor allem an „Pleasantville – Zu schön, um wahr zu sein“, mit seiner schwarzweißen Scheinwelt im Fernseher.

„The Ordinaries“ wirkt dergestalt altmodisch mit Science-Fiction-Einsprengseln. Es ist ein Film voller wunderbarer Details. So trifft man Verabredungen nicht an Adressen, sondern in Szenen wie „Nummer 37, außen Nacht“. Der Herzleser auf Paulas Brust macht Störgeräusche statt der üblichen Filmmusik in emotionalen Momenten. Großartig auch, wie Paulas Mutter Elisa Feinmann (Jule Böwe) mit dem einzigen ihr zur Verfügung stehenden Satz „Ich habe mir Sorgen gemacht“ ein ganzes Universum der Mutterliebe ausdrückt. Die wahre Hauptfigur Fine Sendel darf mit ihrem prägnanten und nicht durchschnittlichen Gesicht als Entdeckung gelten.

In diese wunderbare Ideen- und ästhetische Vielfalt ihrer „Film-Welt“ setzt Regisseurin Linnenbaum das politische Thema der Ausgrenzung durch eine rechtskonservative Elite von farbigen Hauptfiguren. Das passt und ist auf begeisternde Weise gelungen.

{CAPTION}


Ein FILMtabs.de Artikel