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Wo ist Anne Frank?

Belgien, Luxemburg, Frankreich, Niederlande, Israel 2022, Regie: Ari Folman, 104 Min., FSK: ab 6

Während ein heftiges Unwetter die Warteschlange vor dem Anne-Frank-Museum in Amsterdam durchweicht, zerbricht drinnen die Vitrine mit dem berühmten Original-Tagebuch. Aus den Zeilen erhebt sich eine Figur wie von Zauberhand. Es ist Annes erfundene Freundin Kitty, mit der sie immer im Tagebuch spricht. Irritiert und erschreckt versteckt sich das Mädchen, doch niemand der einströmenden Touristen kann sie sehen. Erst als sie das wertvolle Tagebuch einpackt und nach draußen geht, kann sie Kontakt mit Menschen von heute aufnehmen. Und ahnungslos will sie in einer Welt mit Anne-Frank-Brücke, Anne-Frank-Schule und Anne-Frank-Theater wissen: Wo ist Anne Frank?

Der israelische Regisseur Ari Folman („The Congress“), der schon mit erwachsenen Animationen zum Nahost-Konflikt wie „Waltz with Bashir“ beeindruckte, verfilmte nun die Graphic Novel „Wo ist Anne Frank?“, die er zusammen mit Lena Guberman schrieb. Durch die suchende und fragende Kitty wird das Tagebuch einer neuen Generation nahegebracht. Auf einer Ebene erzählt der Film nach, wie die deutsche Familie Frank sich ab 1942 für mehr als zwei Jahre in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis und ihren Judengesetzen verstecken musste. Und von den Anfängen des Tagebuchs mit der wichtigen Frage, an wen Anne es richten soll. Es gibt Erinnerungen an das Leben vor dem Verstecken, als noch alle Jungs in Anne verliebt waren, in Form einer Musical-Parade durch die Straßen. Die zunehmenden Einschränkungen des Lebens von Juden werden in einer kurzen, prägnanten Abfolge von Bildern zusammengefasst. Im Gespräch zwischen Anne und Kitty hören wir die Erklärung, dass Menschen seit Anbeginn immer Minderheiten die Schuld an Problemen gegeben hätten.

In der Jetztzeit eines winterlichen Amsterdams korrigiert Kitty falsche Anne-Zitate bei einer Theater-Aufführung und entkommt der Polizei immer wieder abenteuerlich über die vereisten Grachten mit ihren ausfahrbaren Schlittschuhen. Dabei lernt sie den Taschendieb Peter und seine Freunde kennen. Mit ihnen kommt sie in eine Siedlung von Geflüchteten, die von Abschiebung bedroht sind. Kitty zieht von den Kindern der dunkelhäutigen Wohnungslosen eine Verbindung zum Schicksal Anne Franks, die nach dem Transport ins Durchgangslager Westerbork im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde.

„Wo ist Anne Frank?“ hat eine überzeugende Idee, um das Weiterleben von Anne Franks Idealen in der Gegenwart zu überdenken. In der um Spannung bemühten Rahmenhandlung, in der Kitty vor der Polizei flieht, lebt Annes Motto auf: „Tue alles, was du kannst, um eine Menschenseele zu retten!“ Brillant ist, wie der Regisseur Ari Folman die Möglichkeiten der Animation nutzt: Da gibt es fantastische Visionen von dem Kampf von Annes (Film-) Helden, unter ihnen Clark Gable, gegen die Nazis. Ein andermal spazieren Anne und Peter durch riesige Röhren im Inneren eines Radios, das Nachrichten von den deutschen Verlusten bringt. Die marschierenden Nazi-Soldaten auf den Straßen wirken mit ihren weißen Masken wie Geister. So packen das Schicksal von Anne Frank und der Kampf Kittys ums Überleben der humanistischen Ideen gleichermaßen.

Ari Folman widmete diesen Film seinen Eltern, die in derselben Woche wie die Familie Frank an den Toren von Auschwitz ankamen.

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Ein FILMtabs.de Artikel