« | Home | »

Atlantide

Italien, Frankreich, USA, Katar, Mexiko, Spanien 2021, Regie: Yuri Ancarani, mit Daniele Barison, Maila Dabalà, Bianka Berényi, 100 Min., FSK: ab 16

Während der 24-jährige Daniele auf Sant’Erasmo, einer Insel am Rande der Lagune von Venedig, mit seinem Vater die wertvolle Artischocke Violetto di Sant’Erasmo erntet, interessiert ihn nur, was im Kanal nebenan passiert. Ein Altersgenosse „spielt“ auf dem Wasser mit seinem „Barchino“, dreht Kreise, lässt den Motor des Bootes aufheulen. Auch wenn „Atlantide“ immer wieder die schönsten Venedig-Bilder zeigen wird, diese Boote haben nichts mit den berühmten Gondeln der Stadt zu tun, auch nichts mit den Wassertaxis. Sie sind kleine Versionen der Rennboote aus Miami (Vice), aufgepimpt mit LED-Licht und schweren Bassboxen. Damit liefern sich die jungen Männern der Lagune testosterongetriebene Wettrennen und jagen Geschwindigkeitsrekorden hinterher. So ein konkurrenzfähiges „Barchino“ ist der Traum Danieles, er will dazugehören zu den ganz Schnellen, aber auch zum Zentrum, zu Venedig. Nicht einer von den Inseln am Rande sein.

Der weltweit bekannte italienische bildende Künstler und Regisseur Yuri Ancarani zeigt die Geschichte des jungen Rebellen auf höchst ungewöhnliche Weise wie ein nie gesehenes Bilderbuch der Lagune. Der Anfang ist ein Badeausflug an einer abgelegenen Wasserbus-Haltestelle. Dann ein Rave am Ufer während riesige Kreuzfahrtschiffe bildfüllend vorüberziehen. Die Matadore der Rennboote relaxen derweil in einem kleinen Kanal neben der Insel San Francesco del Deserto, Heimat einer Handvoll alter Mönche. Die Jungen sonnen sich, schlafen mit ihren Freundinnen, deren Namen auf die Barchini geklebt sind, sich aber auch schnell wieder abknibbeln lassen. Dieser unfassbar spannende Gegensatz aus Weltabgewandtheit und unstillbarer Lebenslust gehört zu den vielen Höhepunkten von „Atlantide“.

Um beim Rennen und Rasen mitmachen zu können, besorgt sich Daniele einen neuen Motor. (Selbst das Benzinleck im alten sorgte im Wasser für faszinierende Bilder!) Eine Schiffsschraube muss er sich von einem Konkurrenten klauen, was eine harte Strafe zur Folge hat. Wie Yuri Ancarani selbst diesen möglichen dramatischen Moment umgeht, ist enorm mutig. Er zeigt nur die Folgen einer Schlägerei. Auch Rennen im Stil von „Miami Vice“ bleiben im gänzlich entschleunigten Werk völlig aus. Selbst „der“ tragische Moment wird derart lakonisch inszeniert, dass es schon komisch ist. Gemäß des Sackes Reis, der in China umfällt, kippt noch einer der morschen Pfähle, der die Wasserstraßen Venedigs begrenzt, langsam und unbemerkt in die Lagune. Mit tödlichen Folgen.

„Atlantide“ ist ein einziges, sich immerfort steigerndes Staunen: Typen wie Daniele mit ihren lauten Motoren und Musikanlagen sind für Venedig eindeutig eine Pest, wie es übermotorisierte und unter-intelligente Audi-Fahrer in Städten sind. Trotzdem folgt man diesem Film fasziniert, den endlosen meditativen Fahrten durch Lagune und Kanäle, hypnotisch durch die geniale Musik von Sick Luke.


Ein FILMtabs.de Artikel