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Zwei Herren im Anzug

BRD 2017 Regie: Josef Bierbichler mit Josef Bierbichler, Simon Donatz, Irm Hermann, Martina Gedeck 139 Min. FSK ab 12

Nach der Totenfeier bleiben Vater und Sohn in der Gaststube der eigenen Familien-Wirtschaft zur nächtlichen Aussprache zurück. Aus dem Jahr 1984 geht die Erinnerung vom bayrischen Seewirt und Bauern Pankraz (Josef Bierbichler) in die Kindheit zum 1. Weltkrieg, als kriegslüsterne junge Männer mit Spottgesängen auf die Nachbarn die „Wacht am Rhein“ schmettern. Der große Bruder will „einen toten Franzosen vom Krieg mit zurückbringen“, kehrt aber nach Kopfschuss als Geisteskranker, als Kommunisten-Hasser und Antisemit zurück. So zerstört der Krieg des jungen Pankraz’ Traum, Opernsänger zu werden. Nach dem Russland-Feldzug, an den er keinerlei Erinnerung mehr hat, muss er den Hof übernehmen.

Dass es ein schwieriges Verhältnis zum Sohn Semi werden wird, liegt nicht nur daran, dass der überforderte Vater in der Nähe des Kleinkindes immer Atemnot bekam und sich übergeben musste. Später wird Semi im kirchlichen Internat als „Nach-Turner“ der sexuellen Gewalt eines Priesters ausgesetzt. Unter Begleitung genau der klassischen Musik, die der Vater nur noch selten singt und unter Mitwisserschaft der Mutter (Martina Gedeck).

Josef Bierbichler („Winterreise“, „Das weiße Band“) setzt mit „Zwei Herren im Anzug“ ein gewaltiges Kaleidoskop deutscher und bayrischer Geschichte, einen einzigartigen Monolith in die deutsche Filmlandschaft. Wie eine alte Herzog’sche Ungeheuerlichkeit, mit einem Hauch von Fellinis surrealen Momenten, wenn die Nachkriegsgesellschaft Bauerntheater und schon wieder mit Nazi-Uniformen zu Fasching feiert. Auch wenn Pankraz ausgerechnet in einer typischen Heimatfilm-Nacht über den sternenbeleuchteten See brüllt: „Ich will diesen Heimatskram nicht mehr!“ Bierbichler serviert Deftiges, wie die Hausschlachtung, bei der sich der Metzger in die Hose scheißt. Schockierendes wie ein letzter tödlicher Akt von Sami mit der eigenen, gelähmten Mutter. Und Furchtbares, wie die Vergasung einer ganzen jüdischen Schule im Laster als SS-Sondereinsatz.

Die Nacherzählung einer Entfremdung und Selbstentfremdung, die historische Erinnerung im Zwiegespräch ist, auch mit exzellenten Einzelteile, sehr fragmentarisch und episodisch. Man erkennt an den Auslassungen die Überfülle des eigenen Romans von Bierbichler, der den Stoff auch schon als Theaterstück umgesetzt hatte. Sätze wie „In meinem Kopf drin hängt ein Verwesungsgeruch seit 40 Jahren“ wirken manchmal schlüssiger und stimmiger als die Szenenfolge. Und doch, oder vielleicht weil das Wuchtige und das Raue in dieser Familiengeschichte mit den wunderbare Bildern und dem gewaltigen Schauspieler Bierbichler so nachdrücklich wirkt, ist „Zwei Herren im Anzug“ ein unbedingt sehenswerter Film geworden.


Ein FILMtabs.de Artikel