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Living – Einmal wirklich leben

Großbritannien, Japan, Schweden 2022, Regie: Oliver Hermanus, mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, 103 Min., FSK: ab 6

Bill Nighy brilliert in einer Paraderolle als englischer Gentleman, der sich angesichts des nahen Todes für das Leben öffnet. Frei nach Akira Kurosawas Filmklassiker „Ikiru“ schrieb der japanisch-britische Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb“, „Alles, was wir geben mussten“) das Drehbuch für diese zutiefst bewegende Geschichte.

Mit dem Neuling Peter Wakeling (Alex Sharp) nähern wir uns einem extrem verstaubten und steifen Schreibbüro. Den enormen Respekt vor dessen Vorsitzendem Mister Williams (Bill Nighy) erfahren wir schon im morgendlichen Pendlerzug: Die Mitarbeiter fahren zusammen, aber sprechen den abgesonderten Chef niemals an. Im Großbritannien der 1950er-Jahre treten alle uniformiert in Streifenanzug und Melone auf. Auch im engen Amtszimmer wagt niemand ohne Aufforderung von Mister Williams zu sprechen. Doch heute verlässt die Respektsperson seinen erhöhten Platz überraschend vorzeitig. Er sagt keinem, dass er zum Arzt muss, wo er erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat.

Zuhause, wo die Schwiegertochter ihn nicht leiden kann und den Sohn dauernd rumkommandiert, erzählt der alte Mann niemandem von seinem bevorstehenden Tod. Am nächsten Morgen reist er zum Seebad Bournemouth und stürzt sich in dessen hedonistische Vergnügungen der Bars und Spielhallen. Erstmals deutet er sein Schicksal einem Fremden an, dem er die Schlaftabletten gibt, mit denen er sich eigentlich umbringen wollte. Der ehemals stocksteife Mister Williams geht aus sich heraus, betrunken singt er ein schottisches Lied im Angedenken seiner verstorbenen Frau. Doch auch sein lebenslustiger Begleiter (Tom Burke) gewinnt großen Respekt, als er am blutigen Taschentuch sieht, wie ernst es mit dem bevorstehenden Tod ist. Die Strip-Party wird zum schalen Hintergrund.

Zurück in London trifft Rodney Williams zufällig die junge, ehemalige Mitarbeiterin Margaret Harris (Aimee Lou Wood), lädt sie schick zum Essen ein und lacht erstmals. Am nächsten Tag geht er wieder zur Arbeit und wirbelt die Bürokratie auf, um den ewig verschleppten Vorgang eines Kinderspielplatzes in einem sozialen Brennpunkt endlich umzusetzen.

Mister Williams ist der typische Engländer, den der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro als Kind bestaunt hatte, als er von Japan kommend nach Großbritannien zog. Immer formvollendet, aber nicht wirklich lebendig. Von der jungen Mitarbeiterin erfährt der Bürovorsitzende schmerzlich seinen Spitznamen: Mister Zombie. Ishiguro wandelt die Geschichte des japanischen Kommunalbeamten aus „Ikiru“ leicht ab, sehenswert bleibt das Porträt eines stillen Mannes, der seinem Leben spät einen neuen Sinn gibt. Ebenso zurückhaltend wie die sehr sorgfältige Inszenierung der historischen Bilder und der kitsch-freie Umgang mit Emotionen spielt Bill Nighy seine dankenswerte Rolle, mit der er für einen Oscar nominiert wurde. Er verkörpert die stilvolle Noblesse vergangener Zeiten, die strenge Regel, eigene Befindlichkeiten nicht wichtig zu nehmen. Auch der Ausbruch, die Veränderung kommen mit einem dezenten Lächeln aus und berühren so umso mehr.

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Ein FILMtabs.de Artikel