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Locarno Vater-Komplex
Locarno. Spannend wird es Samstagabend, wenn die Goldenen Leoparden der 63. Internationalen Filmfestspiele Locarnos nach zehn ereignisreichen Tagen mit 250 Filmen vergeben werden. Wer siegt im Wettbewerb? Wer erhält den Publikumspreis? Und: Bleibt es trocken auf der Piazza Grande? Nicht nur für die Lubitsch-Retro hieß es Donnerstag beim Open Air mit vielen gelben Regencapes „(Nass) Sein oder nicht (nass) sein“. Auch die Premiere des deutschen Krimis „Das letzte Schweigen“ verteidigte den Sommer hauptsächlich auf der imposanten Riesenleinwand. Dass Regen der guten Stimmung wenig anhaben konnte, beweist wie gelungen die erste Ausgabe vom neuen Festival-Direktor Oliver Père war.
Mit seinem täglichen „Tatort“ ist Deutschland einig Krimiland – im Fernsehen. Nun wagte sich der in der Schweiz geborene Regisseur und Drehbuchautor Baran Bo Odar mit „Das letzte Schweigen“ auf die ganz große Leinwand. Was in Locarno nicht nur Phrase ist. Passend sind dazu eindrucksvolle Bilder eines sommerlich flirrenden Getreidefeldes aus der Luftperspektive. Dort wird bald ein junges Mädchen vergewaltigt und ermordet. Wir kennen den Täter, doch erst als sich 23 Jahre später die Tat beinahe identisch wiederholt, greift die Polizei den nie geklärten Fall wieder auf. Die Verfilmung des Romans „Das Schweigen“ von Jan Costin Wagner liefert gute Bilder und gebrochene Charaktere. Der einstige Kommissar (Burghart Klaußner) beginnt ein Verhältnis mit der Mutter des damaligen Opfers. Der aktuelle (Sebastian Blomberg) kommt gerade aus der Psychiatrie und verhält sich seltsamer als „Monk“.. Und ein Zeuge von damals wird aus seinem perfekten Leben gerissen…
„Das letzte Schweigen“, der nächsten Donnerstag in unseren Kinos anläuft, trumpft mit großen Bildern auf, letztlich dekorieren sie aber nur einen sehr gut besetzten, aber konventionellen Krimi. Wirklich auf die Kraft der Bilder vertraute beispielsweise „Womb“ des ungarischen Film-Künstlers Benedek Fliegauf, einer der Favoriten im Wettbewerb: Die Kinderliebe zwischen den sommersprossigen Rebecca und Tommy könnte an einem abgelegenen Stranddorf weitergehen, als Rebecca (Eva Green) nach 12 Jahren zurückkehrt. Das macht der erste Blick klar. Aber ein tragisches Unglück reißt Tommy (Matt Smith) aus dem Leben. Rebecca zögert nicht lange, einen Klon ihrer großen Liebe zu gebären und aufzuziehen. Die Reaktion der Mitmenschen treibt das ungewöhnliche Paar weiter hinaus in die Isolation, in ein einsames Strandhaus. Tommy wächst wieder zum jungen Mann heran, doch irgendwann taucht seine Großmutter auf und Rebecca muss Fragen beantworten.
Mit „Tejút“ lieferte Fliegauf 2007 noch ein Kunstvideo ab. Sein großes gestalterisches Vermögen macht aus der atemberaubenden Geschichte von „Womb“ (Bauch) ein bewegendes Meisterwerk, das seine ethische Problematik ganz nebenbei transportiert. Der Beginn des Festivals war geprägt von einer Häufung derartiger ödipaler Themen, doch kennzeichnender als dieser Vater-Komplex von Festivalleiter Père waren seine Entdeckungen und die mutigen Ansetzungen.
Wenn ein abgefahrener Reifen als Hauptdarsteller der ebenso film-philosophischen wie trashigen Komödie „Rubber“ von Quentin Dupieux die Piazza amüsieren darf und der markante französische Porno-Darsteller François Sagat gleich in zwei Filmen („LA Zombie“, „Homme au bain“) neben Stars wie Chiara Mastroianni auftritt, zeugt das von Mut. Dabei hat der 39-jährige Père nicht nur Spaß an Zombie-Streifen für alte und junge „Fanboys“, als echter Cineast brachte er dem Locarno-Publikum auch Klassiker wie Ernst Lubtisch, der alle begeisterte, oder etwas Neues des 1933 geborenen Jean-Marie Straub nahe.
So lud das 63. Festival Locarnos zum Entdecken und Sich-überraschen-lassen ein. Der Wettbewerbs-Liebling „Periferic“ (Regie: Bogdan George Aperti) stand für die gnadenlose Darstellung erschreckender Zustände in rumänischen Filmen der letzten Jahre. Freundlicher stellt ein anderer rumänischer Wettbewerbs-Film das harte Flüchtlings-Thema mit humoristischem Charme dar: „Morgen“ heißt der Film und „Morgen“ sagt der gemütliche Wachmann dem alten Türken immer, „Morgen“ geht es über die Grenze nach Ungarn. Zumindest für Locarno kann man sicher sein, dass das „Morgen“ unter dem neuen Festivalleiter Oliver Père ein Gutes sein wird.
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- Publiziert von:
- Günter H. Jekubzik, 13.08.2010 / 2:00
- Rubrik:
- Festivals, Locarno 2010
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