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Glück ist was für Weicheier

D 2018, Regie: Anca Miruna Lazarescu mit Ella Frey, Martin Wuttke, Emilia Bernsdorf, 95 Min

Jessica (Ella Frey) ist keine ganz normale Zwölfjährige. Sie ist eine Außenseiterin, ständig nervös und in Bewegung. Freundinnen hat sie keine. Wer sie nicht kennt, hält sie für einen Jungen. Jessis Leben dreht sich nahezu ausschließlich um ihre Schwester Sabrina (Emilia Bernsdorf). Seit Brini an einer Lungenkrankheit leidet, lebt die Familie in der ständigen Angst, jeder Atemzug könnte ihr letzter sein. Jessi ist tief geprägt vom Verlust ihrer Mutter, die plötzlich starb als Jessi noch klein war. Der Verlust beschäftigt auch ihren Vater Stefan (Martin Wuttke), der sich manchmal überfordert fühlt von der Situation, die sich zunehmend zum Schlechten wendet. Sabrinas Anfälle werden schlimmer, das neue Antibiotikum wird von ihrem Körper abgestoßen. Jessi muss handeln. Zumindest glaubt sie, dass sie mit ihrem Handeln das Schicksal ihrer Schwester beeinflussen kann. Das führt zu Zwangshandlungen, die irgendwann Überhand nehmen. Sie sieht in allem einen negativen Einfluss – wie häufig sie die Socken hochzieht, die Zahlen auf den Nummernschildern. Dabei ist sie doch im Grunde eine ganz normale Zwölfjährige, die davon träumt, ihren Schwarm zu küssen und das erste Mal so richtig verliebt zu sein.

Jessica ist sicherlich die ungewöhnlichste Filmheldin, die wir in einer deutschen Produktion der letzten Jahre erleben dürfen. Unsicher, einzelgängerisch und von ihren Mitschülern gemobbt, ist sie doch selbstbewusst und fest entschlossen, wenn es um das Leben ihrer Schwester geht. Drehbuchautorin Silvia Wolkan („Sibylle“) schuf sie und ihre dysfunktionale Familie bereits vor acht Jahren. Damals gab sie ihren ersten Entwurf in die Hände von Anca Maria Lăzărescu. Die beiden studierten in München an der HFF. Die in Rumänien geborene Regisseurin Lăzărescu war sofort Feuer und Flamme für die Figuren. Es sollten jedoch einige Jahre vergehen, in denen Lăzărescu erster eigener Spielfilm, „Reise nach Jerusalem“, entstand. Doch die Geduld zahlt sich aus.

Schon mit seinem Titel legt „Glück ist was für Weicheier“, der seine Premiere als Eröffnungsfilm der Hofer Filmtage feierte, den Ton vor. Ernst und ironisch, tragikomisch, eine Mischung aus Coming-of-Age und Klarkommen mit der Welt und dem eigenen Schicksal. Und das meint es mit keiner der Figuren in Lăzărescus Film sonderlich gut. Dass der Film nicht in reiner Lamoryanz versinkt, liegt einerseits daran, dass Wolkan ihre Geschichte immer wieder durch absurd-komische Momente auflockert. Zum anderen sind es die durchweg hervorragenden Darsteller, die den Plot glaubwürdig auf die Leinwand bringen.

Ella Frey war bereits als junge Anne Frank zu sehen und verkörpert ihre erste Hauptrolle, die zwangsgesteuerte Jessi, absolut überzeugend. Martin Wuttke, der gelegentlich auch auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses steht, spielt den Vater zwischen verständnisvollem Vorbild und überfordertem Alleinerzieher mit einer natürlichen Leichtigkeit. Emilia Bernsdorf versinkt als todkranke große Schwester nie in Vorabendserien-Kitsch-Klischees. Sein Ensemble und die vielen kleinen Figuren, die sich drumherum scharen, machen „Glück ist was für Weicheier“ zu dem, was er ist: Ein rundum überraschender Glücksfall fürs Kino.


Ein FILMtabs.de Artikel