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Ehren-Voller Abschied

Festivals sind paradiesisch, wenn man gerne Filme sieht. Wenn man die Begeisterung in ein paar Zeilen packen darf, fallen viele von hunderten gezeigter und zig gesehener Filme unter den Schreibtisch. Aber ein Dutzend, von denen man mit Begeisterung, Wut, Glück oder Ärger erzählt, sollte übrig bleiben … wären da nicht immer wieder die Personalprobleme. So hatte Locarno 2005 (3. – 13. August 2005) reichlich Stars, fast perfektes Wetter für die abendlichen Open Air-Vorstellungen, eine exquisite Orson Welles-Retro. Trotzdem sprach man meist über den Wechsel der Festivalleitung. Aber vielleicht lag das dann doch wieder an den Filmen …

Nach nur fünf Jahren verabschiedeten sich die italienische Filmkritikerin Irene Bignardi (La Republicca) und ihre bewährte Programm-Assistentin Teresa Cavina aus der künstlerischen Leitung Locarnos. Bignardi machte aus dem Filmfestival ein facettenreiches Gesamtevent mit einer besonderen Ausrichtung auf Menschenrechte und vernachlässigte Weltregionen. Das interne Klima änderte sich nach der Marco Mueller-Ära spürbar, beim Abschied der Damen brauste immer wieder lang anhaltender Applaus auf. Zwischendurch wurde Bignardi sogar für Venedig gehandelt, jetzt will sich die über 60-Jährige wieder ihrer Tätigkeit als Journalistin widmen.

Zum Abschied schien sie den Kollegen eine lange Nase machen zu wollen, die in Locarno immer “Stars” vermisst haben. Diesem Stereotyp aus dem 1×1 der Festivalberichterstattung begegnete sie mit Wim Wenders, John Malkovich, Susan Sarandon, Terry Gilliam, Abbas Kiarostami. Jean-Claude und Christo wurden aus Anlass einer Reihe ihres Hofdokumentaristen Albert Maysles (“Umbrellas”) ebenso integriert, wie eine Tochter von Orson Welles, die bei der Retro zu Ehren des Genies einen Kommentar des Vaters bestätigt sah: Warte nur bis ich tot bin, dann werden die Leute in meine Filme strömen.

Veraltete Piazza

Perfektes Wetter am Lago Maggiore mit nur einer Viertelstunde Regen während des ganzen Festivals sorgte für fast ungetrübte Piazza-Abende. Doch das einzigartige, fast rituelle Filmschauen zu Tausenden unter freiem Tessiner Himmel war in diesem Jahr jedoch nicht nur eitel Sonnenschein. Auf der Piazza Grande gab man sich zuviel der Ehre: Ehren-Leoparden für Wenders, Gilliam und Kiarostami. Malkovich, Sarandon sowie der Kameramann Vittorio Storaro (Präsident der Jury) erhielten “Excellence-Awards”, Jeremy Thomas den Raimondo Rezzonico-Preis für Produzenten. Da jeder Geehrte auch eine Filmvorführung mitbekam, ergab sich auf der Piazza ein unbefriedigendes Ehren-Programm mit zu wenig neuen Beiträgen. Gilliam kommentierte süffisant, “Time Bandits” hätte ja damals kaum jemand sehen wollen, “Brazil” sei eigentlich sein Lieblingswerk. Und ob Storaro wohl auf “Dick Tracy” stolz ist?

Selbst die neuen Filme begeisterten kaum: Aus Südafrika erzählte “The Flyer” (Regie: Revel Fox) von einem kriminellen Straßenjungen, der durch einen alten Zirkusartisten zum Trapezkünstler ausgebildet wird. In einem klischee-reichen Finale muss sich der talentierte “Flieger” mit der Versuchung zum Bösen in Form seines verbrecherischen Bruders auseinander setzen. “On a clear day” (Regie: Gaby Dellal), die alljährliche Social Comedy aus Großbritannien, zeigt Peter Mullan als Arbeitslosen und Vielschwimmer, der seinen Frust mit einer Kanalüberquerung runterspült. Frisches boten nur zwei Piazza-Filme: Der Tailänder Wisit Sasanatieng amüsierte mit seiner farblich und dramaturgisch überdrehten Liebeskomödie “Mah Nahkorn – Citizen Dog”. Wildes Fabulieren um den schüchternen Helden vom Lande lässt in Bangkok Geister Mofa-Taxi fahren und einen alles überragenden Berg aus Plastikflaschen wachsen.

Ein stilistischer Overkill erdrückte die bittere Medienkritik “Rag Time” der Nordirin Mary McGuckian. Die junge Regisseurin warnte das Publikum vor der hektischen Montage, den dauernden Wechseln von Perspektive und Farbton. Dabei packt die fulminant konstruierte und erschreckende Geschichte auch mit ihrer Substanz: Die Redaktion des Londoner Käseblatts “The Rag”, ein Haufen zynischer Kaltherzen, ist gerade damit beschäftigt, das Schäferstündchen des Chefredakteurs Eddy (Rupert Graves) mit der Frau des Herausgebers Mary (Jennifer Jason Leigh) live per Telefon und Email zu verfolgen. Die Zeitung mit der üblichen Kampagne gegen die Windsors macht sich derweil scheinbar von alleine. Als der Herausgeber Richard (Malcolm McDowell) plötzlich Lord werden und dafür die Monarchie unterstützt wissen will, seine Frau gleichzeitig den Chefsessel Eddys beansprucht, brechen atemberaubende Intrigen und kriminelle Machenschaften los, die in einem dramaturgischen Ausrutscher sogar tödlich enden. “Rag Tale” war die perfekte Antwort auf Orson Welles “Macbeth”, abgrundtiefe Menschenverachtung findet sich heutzutage in der Fleetstreet.

So war es nur bei dem Altherren-Western “Don’t come knocking” von Wim Wenders richtig voll auf der Piazza. Festivaldirektorin Irene Bignardi betonte in ihrer Laudatio, dass Wenders zwar schon Filmgeschichte geschrieben habe, aber seine Filme noch immer jünger seien, als das, was die Jungen machen. Zum Beweis lupfte er das schwarze T-Shirt unter seinem Jackett und zeigte sich darunter im Leoparden-Look als Super-Leo. So ließ noch niemand auf der Piazza seine Liebe zu Locarno unter die Haut gehen. Bevor er unter lautem Applaus von der Bühne abtrat, gab er sich noch politisch-kabarettistisch: Er begrüßte den kulturell urlaubenden Kanzler Schröder viel sagend mit den Worten, “Ich hoffe, sie gehen nicht vor dem Ende!”

Auch die ökumenische Organisation “Interfilm”, die in diesem Jahr ihr 40.Jubiläum feiert, verlieh Wenders einen Spezialpreis. Damit wurde neben seiner herausragenden künstlerischen Leistung sein Bekenntnis zum christlichen Glauben gewürdigt.

Lahmes Leoparden-Rennen

Der Wettbewerb von Locarno zeigte sich wieder einmal als in Film verpacktes Leiden an der Welt. Dabei wird das 58. Festival von Locarno wegen seiner Stimmungen in Erinnerung bleiben, nicht wegen herausragender Filme. Der ungewöhnliche US-Film “Nine Lives” von Rodrigo García erhielt den mit 90.000 SFr (60.000 €) dotierten Goldenen Leoparden. Jeweils ein Frauenname benennt die in nur einer Einstellung aufgenommenen Miniaturen, die . sehr kunstfertige Reihe von Episoden um die neun Leben, die nicht nur die Katze hat.

Sandra, eine brave Streberin im Knast kann in einer herzzerreißenden Szene am Besuchstag nicht mit ihrer Tochter sprechen. Die hochschwangere Diane (Robin Wright-Penn) trifft im Supermarkt ihre alte Liebe Damien und bleibt erschüttert zurück. Die verzweifelte Holly wartet mit Schwester auf den Vater, um sich eine Pistole an die Schläfe zu setzen. Sonia (Holly Hunter) entblößt ihre Beziehung vor Freunden. Die junge Samantha pendelt zwischen dem behinderten, zynischen Vater und der frustrierten Mutter Ruth (Sissi Spacek). Die begeht in ihrer Szene fast Ehebruch in einem Motel. Am Ende sehen wir die reife Maggie (Glenn Close) auf dem Friedhof weise Gedanken austauschen.

In geschliffenen Dialogen fühlt sich “Nine Lives” fein in Nuancen des Umgangs miteinander ein, tastet Beziehungen gefühlvoll ab. Das Kunstwerk bleibt im Persönlichen isoliert, auch wenn Figuren aus anderen Episoden am Rande auftauchen. Wenn man die Filmwelt in Politik oder Kunst polarisieren will, steht “Nine Lives” ganz weit draußen am Kunst-Pol. Auch das Ensemble der neun (!) Schauspielerinnen erhielt einen Leoparden.

Man spricht deutsch

Es gab auch 2005 die üblichen Rangeleien um die 3-4 Festival-, Podiums- und Simultansprachen sowie in allen Sektionen erstaunlich viele deutsche Beiträge. Langsam wird es bei allen größeren Festivals Normalität, das deutscher Nachwuchs beachtet wird – und sich auch tatsächlich sehen lassen kann. Zwei nationale (Ko-) Produktionen erhielten Preise. Die Internationale Jury vergab den Silbernen Leoparden (20.000 €) an Yilmaz Arslans blutige Rachetragödie “Fratricide”, die packend und erschreckend vom vergeblichen Versuch eines jungen Kurden erzählt, in Deutschland dem türkischen Morden und der Blutrache zu entkommen.

Als “Bester Film” unter den ersten und zweiten Werken wurden das iranische Familiendrama “Ma Hameh Khoubim” (Uns geht es gut) von Bizhan Mirbaqeri und der deutsche “3 Grad kälter” von Florian Hoffmeister ex aequo mit einem Silbernen Leoparden ausgezeichnet. Die in einem dunklen Nürnberg spielende Auslotung eines Freundeskreises anlässlich der Rückkehr eines jahrelang Vermissten verknüpft viele Leidenschaften mit einem melancholischen Grundton. Der verstörend kunstvolle Film-Traum “The Piano Tuner of The Earthquakes”, von den gehypten Quay-Brüdern in Leipzig gedreht, erhielt eine Besondere Erwähnung.

In der bislang außergewöhnlich hochwertigen Doku-Reihe “Settimana della critica” erhielt “Gambit”, die erschütternde Aufarbeitung der Gift-Katastrophe von Seveso, unter sieben nicht herausragenden Kandidaten den Hauptpreis. Eine besondere Erwähnung ging an “My Date with Drew” von Jon Gunn, Brian Herzlinger und Brett Winn. Der selbst dokumentierte Versuch eines ungemein sympathischen Arbeitslosen aus L.A., in 30 Tagen eine Verabredung mit dem US-Star Drew Barrymore zu erhalten, bescherte einen der wenigen heiteren Momente im diesjährigen Locarno-Programm.

Leer ging leider die klangvolle Dokumentation “Wie Luft zum Atmen” von der Regisseurin Ruth Olshan und dem Kölner Produzenten Peter Kreutz aus. Der von der Filmstiftung NRW geförderte Musikfilm zeigt die Georgier als ein musikliebendes und stimmlich gesegnetes Völkchen. Bemerkenswert die Entscheidung, die üblichen Klischees zum Land und zur Weltlage bewusst auszublenden. Noch eine heitere Note, ein erhebender Moment, eine Seltenheit im guten, aber nicht sensationellen Programm. Nun werden die Karten neu gemischt, Locarno 2006, dürfte mal wieder ein anderes Locarno werden.


Ein FILMtabs.de Artikel