Winterschläfer

BRD 1997 (Winterschläfer) Regie und Buch (Ko-Autor)Tom Tykwer, 123Min.

Beim 50. Internationalen Filmfestival von Locarno fiel Tom ("Dietödliche Maria") Tykwers "Winterschläfer"außerordentlich auf. Die Exposition ist wohl die beste,packendste und dichteste, die deutsches Kino seit langem sehenkonnte. Das Leben von sechs Menschen wird durch einen Unfallmiteinander verbunden - nur daß die Städter und Bauern,Männer und Frauen aus dem kleinen, verschneiten Bergdorf beiBerchtesgarten es nicht wissen. So streiten Marco und Rebecca weiterum ihre Beziehung, Laura und René lernen sich kennen, derBauer Theo versucht verzweifelt, den Fahrer zu finden, der seinerMeinung nach Schuld am Unfall und dem Koma seiner Tochter trägt.Schuld haben alle ein wenig, und alle versuchen auf ganzunterschiedliche Weise ihr Leben zu führen.

Die Vielfalt dieser Figuren macht "Winterschläfer" zumunvergleichlichen Erlebnis. Da ist aber auch noch die durchgehendeWinterstimmung in grandiosen Bildern, von Flügen überSchnellfelder, -gipfel und Gletscherklüfte bedeutungsvollangehoben. Und die eindringliche Filmmusik, an derTykwer auch selbstmitschrieb, verstärkt durch Stücke u.a. von Arvo Pärt.Der träge, aber unwiderstehliche Rhythmus gehört ebenso zuden besonderen Merkmalen von "Winterschläfer". Eineüberraschende Entwicklung krönt dieses großeStück Kino.

"Winterschläfer", das Porträt einer Generation,verbindet Allgemeines und ganz Privates. Dementsprechend gibt es"Montagestrecken, die viel zusammenfassen, konzentratmäßigverdichten" und an manchen Punkten ein Verweilen über dasnormale Zeitlimit hinaus, um selbst in quälenden Situationeneine Privatheit zu erforschen. Ein schwerer Unfall verknüpftschicksalsträchtig fünf Menschen und eine eindrucksvolleBerglandschaft miteinander.

Das Porträt "einer Generation, um die Dreißig, zwischenden Stühlen", erinnert in der Verstrickung von Lebensfädenund im tragischen Kern der Geschichte an die Filme des Kanadiers AtomEgoyan. Besonders mit dessen letztem,"The SweetHereafter", der ebenfalls in Locarno läuft, bestehtüber den Unfalltod auf eisiger Straße eine weitereParallele. Selbst die Musik klingen stellenweise die FlötenEgoyans an. Doch "Winterschläfer" ist etwas eigenes, ganzbewußt auch etwas Deutsches, in der Gegend von BerchtesgartenGedrehtes. Die "Übungs"-Granate der Bundeswehr, die dasKurzzeitgedächtnis von René anknackste, eine Schuld, ander Alle teilhaben und eine "Villa" bei Berchtesgarten lassen schnellpolitische und historische Verknüpfungen aufkommen. Mit"Winterschläfer" kann nicht nur das im Schnee versunkeneUnfallauto oder das Mädchen im Koma gemeint sein:Wie siehtes mit der dargestellten Generation "um die Dreißig" aus? Wiewach ist sie?

Vor allem das Vielschichtige und das Offene in"Winterschläfer" macht den Film neben seinen ästhetischenQualitäten aus der momentanen Filmlandschaft herausragend. Einethematische und formale Nähe von "Winterschläfer" zu FilmenAtom Egoyans, speziell zu"The sweet hereafter"mit seinen Gedanken über Täter und Opfer, erstauntTykwer: "Egoyanfinde ich sehr interessant, aber auch immer didaktisch, eine ArtDenksportaufgabe. Das Kino, das ich suche, ist deutlich sinnlicher.Die Ebene einer Versuchsanordnung möchte ich verlassen, ichmöchte, daß es echte Menschen werden." So sind dieeinfachen Beziehungsgespräche zwischen Rebecca und Marcofür ihn sehr wichtig, um "Winterschläfer" zu einememotionalen Stoff zu machen, um ihn identifikationsfähig zumachen. "Filme, die mir wirklich in Erinnerung bleiben, sind die, diemich emotional und intellektuell fordern. Deshalb liegt mir MikeLeigh, beispielsweise mit "Naked",näher."

Die Übungsgranate der Bundeswehr, die dasKurzzeitgedächtnis von René beschädigte; eineSchuld, an der alle teilhaben und eine "Villa" bei Berchtesgadenlassen schnell politische und historische Verknüpfungenaufkommen? "Berchtesgaden kommt nur auf den Nummernschildern vor. Ichwählte den Ort wegen seiner optischen Reize. Wenn du mit einemdeutschen Film in die Berge gehst, hast du sowieso nicht vielAuswahl." Tykwer wollte die Villa nach außen legen, um vierLeuten, die vor ihrer Herkunft fliehen, die einen Neuanfang, eineBestimmung suchen, einen Kokon zu bieten, in den sie sich wiederzurückziehen. So wie sich Schuld sehr fein differenziert aufalle Figuren verteilt, ist auch eine breite Vielfalt an Subtextenangelegt: "Ältere Leuten nehmen "Winterschläfer" allerdingsals einen Film über Erinnerung und Verantwortung wahr und sehenihn ganz direkt in einem Zusammenhang mit deutscher Problematik."

In einer Situation, in der deutsche Filme wieder etwas gelten,ihnen die Türen offen stehen, hätten Filmemacher dieChance, ihre Ideen aggressiver durchzusetzen. "Da muß man jetztreingehen, andere Filme machen, sie mit der gleichen Energievertreten, wie "Bandits" oder"Der bewegte Mann". Ichglaube, es gibt ein Publikum dafür."

Die Berglandschaft, eingeführt durch eindrucksvolleFlugaufnahmen, bleibt in "Winterschläfer" sehr präsent,ohne daß man sie dauernd sieht. Im Gegensatz zu denAlpenpostkartengeschichten wurde etwas gesucht, was der Landschafteinen Charakter gibt, sie zum Subjekt, zum sechsten Hauptdarstellermacht. "Von der Seite angeflogen sieht man eine weißeFläche, dann kommst du immer näher und kuckst einbißchen weiter runter. Plötzlich öffnen sichüberall diese Spalten wie unterkühlte Wunden, in denen dasBlut nicht raus kann, weil es eingefroren ist. So sind die Figurenfür mich auch, sie haben Wunden. Aber sie bluten nicht, weil eskeiner zuläßt. Es wäre gar nicht so schlecht, wennsie es mal täten."

 


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

realisiert durch

Ein Service von

arena internet service

FILMtabs-Logo