Die Chance nutzen

Interview mit Tom Tykwer

Kurz nach der Premiere von"Winterschläfer" beimFestival von Locarno kam es zu diesem Interview mit Tom Tykwer. Eswar keine der üblichen Fließband-Verkündungen vonPressesprüchen. Der engagierte Regisseur sprachungewöhnlich offen über sehr persönliche Aspekte unddie Absichten seines Films. Diese intensive Auseinandersetzung willer mit Presse und Publikum weiterführen, um"Winterschläfer" insBewußtsein der Leute zu bringen - "als einen der Filme, indenen sich etwas Neues durchsetzt."

"Winterschläfer",das Porträt einer Generation, verbindet Allgemeines und ganzPrivates. Dementsprechend gibt es "Montagestrecken, die vielzusammenfassen, konzentratmäßig verdichten" und an manchenPunkten ein Verweilen über das normale Zeitlimit hinaus, umselbst in quälenden Situationen eine Privatheit zu erforschen.Ein schwerer Unfall verknüpft schicksalsträchtig fünfMenschen und eine eindrucksvolle Berglandschaft miteinander.

Beschreibung einer Generation Im Gegensatz zu dem abstrakterenPersonenbereich seines letzten Films "Die tödliche Maria" wollteTykwer die Menschen in"Winterschläfer" ganz"diesseitig und ganz nah an mir dran" darstellen. Es ist einGenerationenporträt von Leuten um die Dreißig. Bei anderenFilmen dieser Art sieht Autor und Regisseur Tykwer das Problem,daß "alle so reden, als wären sie eine Person, die selbeSprache, die selben Witze, die selbe Gestik - das stimmt doch einfachnicht." Sehr spezifisch für die Generation der jetztDreißiger sei zwar ein gemeinsamer Nenner, der drücke sichaber nicht in der Sprache aus. "Sie sind alle ultraindividualistisch,jeder hat so sein komisches Ding - diese Isolation zeichnet uns aus,es gibt kein Gemeinschaftsgefühl."

Mit "Winterschläfer"kann nicht nur das im Schnee versunkene Unfallauto oder dasMädchen im Koma gemeint sein: Wie sieht esmit der dargestellten Generation "um die Dreißig" aus? Wie wachist sie? "Ich sehe ein relativ phlegmatisches Gefühl fürdie Generation. Sie ist zwar nicht saft- und kraftlos, befindet sichaber in einer Art Winterschlaf, bei dem keiner weiß, wann derWinter vorbei ist." Dabei gibt es für Tykwer einen Zusammenhangmit der Politik: "Seit ich politisch denke, ist Kohl Kanzler; es gibtkeinen Ideologiestreit, keine Kämpfe mehr. Es herrscht eingruseliger Brutalkonsens. Aus einem Konsens ist noch nie etwas Neuesgeboren worden." Streit ist out - das gelte auch für dieFilmbranche: Ich tu' dir nichts, dann tust du mir auch nichts.

In einer Situation, in der deutsche Filme wieder etwas gelten,ihnen die Türen offen stehen, hätten Filmemacher dieChance, ihre Ideen aggressiver durchzusetzen. "Da muß man jetztreingehen, andere Filme machen, sie mit der gleichen Energievertreten, wie "Bandits" oder"Der bewegte Mann". Ichglaube, es gibt ein Publikum dafür."

Der aus Wuppertal stammende Wahlberliner Tom Tykwer istAutodidakt. Er arbeitete im Berliner Kino Moviemento, alsDrehbuchautor und drehte Regisseurporträts. Mit seinemEngagement bei X-Filme Creative Pool (zusammen mitWolfgang Becker,Dani Levy und Stefan Arndt)ist er seit drei Jahren auch im Produzentenbereich aktiv, sieht sichaber primär als Filmemacher. X-Filme eröffnet ihmgrößere Möglichkeiten, "filmintern gegen die ganzeLangeweile anzugehen". Tykwer glaubt, daß man jetztselbstbewußt mit anspruchsvolleren Themen umgehen undgleichzeitig an Kino denken kann, an die große Leinwand undsein Publikum.

Vor allem das Vielschichtige und das Offene in"Winterschläfer" machtden Film neben seinen ästhetischen Qualitäten aus dermomentanen Filmlandschaft herausragend. Eine thematische und formaleNähe von"Winterschläfer" zuFilmen Atom Egoyans, speziell zu"The sweet hereafter"mit seinen Gedanken über Täter und Opfer, erstaunt Tykwer:"Egoyan finde ich sehr interessant, aber auch immer didaktisch, eineArt Denksportaufgabe. Das Kino, das ich suche, ist deutlichsinnlicher. Die Ebene einer Versuchsanordnung möchte ichverlassen, ich möchte, daß es echte Menschen werden." Sosind die einfachen Beziehungsgespräche zwischen Rebecca undMarco für ihn sehr wichtig, um"Winterschläfer" zueinem emotionalen Stoff zu machen, um ihn identifikationsfähigzu machen. "Filme, die mir wirklich in Erinnerung bleiben, sind die,die mich emotional und intellektuell fordern. Deshalb liegt mir MikeLeigh, beispielsweise mit "Naked",näher."

Die Übungsgranate der Bundeswehr, die dasKurzzeitgedächtnis von René beschädigte; eineSchuld, an der alle teilhaben und eine "Villa" bei Berchtesgadenlassen schnell politische und historische Verknüpfungenaufkommen? "Berchtesgaden kommt nur auf den Nummernschildern vor. Ichwählte den Ort wegen seiner optischen Reize. Wenn du mit einemdeutschen Film in die Berge gehst, hast du sowieso nicht vielAuswahl." Tykwer wollte die Villa nach außen legen, um vierLeuten, die vor ihrer Herkunft fliehen, die einen Neuanfang, eineBestimmung suchen, einen Kokon zu bieten, in den sie sich wiederzurückziehen. So wie sich Schuld sehr fein differenziert aufalle Figuren verteilt, ist auch eine breite Vielfalt an Subtextenangelegt: "Ältere Leuten nehmen"Winterschläfer"allerdings als einen Film über Erinnerung und Verantwortung wahrund sehen ihn ganz direkt in einem Zusammenhang mit deutscherProblematik."

Würde es ihn nach diesem komplexen Spiel mit fünfPersonen reizen, mit noch mehr Figurenkaleidoskopisch in der Art vonRobert Altman zu arbeiten? "Es war schon ein Kraftakt mitfünf Hauptfiguren. Meine Stärke ist es eher, mich auf einbis zwei zentrale Charaktere zu konzentrieren und da einen Kosmosdrumherum zu bauen." Beim nächsten Projekt "Lola rennt" geht esnur um eine Frau, die "alle Sorgen der Welt auf ihren Schulternträgt".

Die Berglandschaft, eingeführt durch eindrucksvolleFlugaufnahmen, bleibt in"Winterschläfer" sehrpräsent, ohne daß man sie dauernd sieht. Im Gegensatz zuden Alpenpostkartengeschichten wurde etwas gesucht, was derLandschaft einen Charakter gibt, sie zum Subjekt, zum sechstenHauptdarsteller macht. "Von der Seite angeflogen sieht man eineweiße Fläche, dann kommst du immer näher und kuckstein bißchen weiter runter. Plötzlich öffnen sichüberall diese Spalten wie unterkühlte Wunden, in denen dasBlut nicht raus kann, weil es eingefroren ist. So sind die Figurenfür mich auch, sie haben Wunden. Aber sie bluten nicht, weil eskeiner zuläßt. Es wäre gar nicht so schlecht, wennsie es mal täten."


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

realisiert durch

Ein Service von

arena internet service

FILMtabs-Logo