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Live Flesh - Mit Haut und Haar

Sp/Fr 1997 (Carne Tremula) Regie und Buch Pedro Almodovar, 100Min.

Madrid im Januar 1970, eine schwangere Prostituierte schafft esnicht mehr ins Krankenhaus. Die Straßen sind wie ausgestorben,Diktator Franco rief gerade den Ausnahmezustand aus. So erblicktVictor im Bus das Licht der Welt und erhält später vomBürgermeister eine Freikarte für ein Leben auf Rädern."Ein Leben auf Rädern" - allerdings in einem sehr makaberen Sinn- erwartet 20 Jahre später David (Javier Bardem) ...

Denn dann besucht Victor (Liberto Rabal) die junge Elena(Francesca Neri). Kurz vorher hatte er eine erotische Episode mitihr, an die sich Elena allerdings überhaupt nicht erinnert. Siewartet auf ihren Dealer und als es ihr zu nervig wird, zieht sie einePistole, um den naiven Verehrer abzuwimmeln. Das Fernsehenschießt mit einem alten Bunuel-Film zuerst, aber als die zweiPolizisten Sancho und David auftauchen, geht es tatsächlichtragisch ab. Am Ende sitzt David gelähmt im Rollstuhl und Victorverbittert im Knast. Als er nach vier Jahren durch Bibel- und andereStudien weiser aus dem Gefängnis kommt, treffen bei einemBegräbnis alle durch's Schicksal Verknüpfte aufeinander, umein packendes Drama zu veranstalten.

Jetzt meckere niemand, das sei unwahrscheinlich. Denn füreine derart intensive und packende Verquickung der Lebensgeschichtenmuß man Almodovar leidenschaftlich dankbar sein! Alle habenMist gebaut und werden auf unterschiedliche Weise damit fertig: Elenaversucht ihren Schuldkomplex mit sozialer Arbeit zu besänftigen.So heiratete sie auch den gelähmten Polizisten David. Sancho undseine Frau Clara (Angela Molina) stecken immer noch in derverkorksten Leidenschaft, die vor Jahren zum Unglückführte. Der starrköpfige Naivling Victor handelt nicht, ertreibt auf seinen Hormonen durch die Geschichte und wirkt damit wieein reißender Fluß, der alles auf den Kopf stellt. Wie essich für einen guten Psychokrimi gehört, führt nur dernach vorne gelebte Wahnsinn zur Lösung von Vergangenheit.

"Live Flesh" basiert - allerdings sehr frei - auf dem Roman "Inblinder Panik" der Britin Ruth Rendell. Die Verquickung von Tod,Schicksal und Schuld spielen beim Spanier Almodovar nichtzufällig mit: Für ihn sind "Tod und Schuldkomplex diebeiden Grundsäulen, die das Gewicht unsrer schlimmstenkatholischen Erziehung tragen. Der tragische Sinn des Lebens - diesist so typisch für Spanien wie die Gewohnheit, sich überden Tod lustig zu machen - durchtränkt den ganzen Film."

Schon der Anfang ist pure Filmkunst: Eine lange Fahrt auf deneinsamen Bus beginnt einen Lebenskreis, den erst am Ende eine weitereGeburt in einem freien, lebensprallen Madrid beenden wird. Derzwölfte Almodovar ist sein bester Film seit langem. Mit sowohlinhaltlich wie auch ästhetisch ausschweifenden Werken hat ersich in der anarchischen Movida-Bewegung die Franco-Diktatur von derSeele gefilmt, eine neue Freiheit versinnlicht. "Frauen am Rande desNervenzusammenbruchs" brachte 1987 seinen internationalen Durchbruch,dem die Veröffentlichung früherer Filme ("Labyrinthder Leidenschaften", "Matador") folgte. Mit "Fesslemich / Atame!", "HighHeels", "Kika" und "Meinblühendes Geheimnis" verschreckte der Spanier seinebürgerlichen Fans. Ausstattung und Farben sind nun in "LiveFlesh" eher warm als grell. Der iberische Macho erblödet sichnur noch selten in Sätzen wie "Nur eine tote Frau ist wirklichtreu." Weiterhin bleibt Almodovar sozial aufmerksam, Blicke aufbrutale Hochhaussiedlungen und abgerissene Baracken, klare Worte zumLeben einer Prostituierten sind selbstverständlich wie derstarke Musikeinsatz, viel Atmosphäre und Lieder, die vorEmotionen im Ohr zerplatzen.

Der filmhistorisch versierte Almodovar schweift in einen Exkurs zuden Füßen und den Beinen ab, verweist auf biblischeWaschungen und läßt Elena Victors Beine umklammernwährend sie ihren gelähmten Mann betrügt! ImAusschnitt zeigt das Filmplakat diese verdrehte Umarmung.


Eine Kritik von GünterH. Jekubzik

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