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Kost' nix, is nix?

11. August 1999. Auf dem Höhepunkt der Sonnenfinsternis, High Noon plus 30 Minuten, ertönte auf der Piazza Grande im Tessiner Locarno die bekannte Fanfare der Abendvorstellungen. Gespenstisch schallte die Stimme Alfred Hitchcocks über den nur leicht verdunkelten Platz, zu sehen war auf der Riesenleinwand nichts. Es gab nichts zu sehen! Wie symptomatisch für das "52. Internationale Filmfestival von Locarno" - zumindest wenn man sich dem Wettbewerb verschrieben hatte!

Selbst in der Schweiz, dem eurosicheren Land, in das Kapital und Anlagen fliehen, muss gespart werden. Und so wandelte das Festival von Locarno in seiner 52. Ausgabe die Not zur Tugend, mit weniger auszukommen. Weniger Geld, weniger Filme und weniger Retrospektive. Festivaldirektor Marco Müller verkündete, man hätte die Zahl der neuen Filme um fast ein Drittel gekürzt. Leider blieb dabei auch die Qualität auf der Strecke und es bestätigte sich der Spruch, was nix kost', is nix. Der Wettbewerb mit 21 Filmen war eine Tortur. Die allgemeine Stimmung sank unter kräftiger Mithilfe eines wechselhaften und oft nassen Wetters in den Bereich der Depression. Viele der reizvollen Abendvorstellungen unter dem Tessiner Himmel fielen ins Wasser. Und auch tagsüber in den Kinosälen hätte man sich gerne einen Schauer herbeigewünscht, der all dies untere Mittelmaß hinweg spült.

So saß man betrübt im Regen und schaute sich neidisch das gerade veröffentlichte Programm von Venedig mit all den wohlklingenden Namen an. Oft konnte in Locarno nur der Zustand der Cinematographie eines Landes interessieren, das Interesse am jeweiligen Film aus Rußland, Japan, Brasilien, Italien oder Deutschland an sich erschlaffte schnell.

Letztendlich gewann mit dem Erstling "Peau d'homme coeur de bete" (Menschliche Haut, tierisches Herz) der jungen Französin Hélène Angel ein entsprechender Film den mit 40.000 Schweizer Franken dotierten Hauptpreis, den Goldenen Leoparden. Angels Familienstudie eines vorhersehbaren Mordes war einer der düstersten, aber wohl auch der bewegendste Film des Wettbewerbs. Die Rückkehr des verstört wirkenden Coco komplettiert den Familienkreis, der drei Pujol-Brüder. Frankie, der wegen seiner cholerischen Anfälle im Polizeidienst Probleme hat, schlägt und küsst ihn dann zur Begrüßung. Der kleine Alex wirkt noch am vernünftigsten, hängt allerdings in der kriminellen Szene des Örtchens im Süden Frankreichs. Der örtliche Pate ersetzt ihm den Vater. Regelmäßige Männerausflüge zur Stripbar enden schon mal mit einer Vergewaltigung. Meist muss Annie, die frühere gemeinsame Liebe von Coco und Frankie unter dem Männerhaufen leiden.

Das Schreckliche an dieser recht gewöhnlichen Normalität: Alle wissen, wie Coco ist, er war schon früher so, nur keiner redet davon, geschweige verhindert es. Irgendwann startet er dann ohne Grund den ungebremsten Amoklauf. Es gibt in Hélène Angels Film nicht viele Erklärungen, selten einen freien Blick auf die bergige Landschaft. Dafür immer wieder Träume: Die kleine Aurelie sieht in ihren prähistorische Monster (= Gewalt?).

"Peau d'homme, coeur d'bête" überrascht als thematisch und schauspielerisch packender Spielfilmerstling. "La vie parisienne"). Die Inszenierung wirkt authentisch und bietet gleichzeitig viele Denkanstöße, etwa wie die drei Brüder auf unterschiedlichen Positionen der Gesellschaft Gewalt ausüben. Ähnlich zu Gaspar Noés Gewalttäter-Film "Seul contre tous" schwebt die Haltung zwischen nüchterner Distanz, wenn der Wetterbericht eine Verhaftung begleitet und herzlicher Anteilnahme, vor allem für die beiden jungen Töchter Frankies, die 13-Jährige Christelle und die 5-Jährige Aurelie. Ihnen gilt das hoffnungsvolle Schlussbild: Zusammen mit der zwischenzeitlich verstummten Aurelie schreit Christelle auf einer hohen Bergkuppe zu Divine Comedys "Tonight we fly" ihre Gefühle heraus.

Serge Riaboukine, der große, pockennarbige Darsteller des Frankie, erhielt den Bronzenen Leoparden als Bester Schauspieler des Festivals. Zur besten Darstellerin wurde Vera Briole aus dem Film "1999 Madeleine" von Laurent Bouhnik erkosen.

In der Kategorie "Neuer Film" gab es einen Silbernen Leoparden für "Barak" von Valerij Ogorodnikov. Die Geschichte einer russischen Wohnbarracke war zwar gut erzählt, "neu" war sie allerdings in keiner Hinsicht. Wohingegen "La vie ne me fait pas peur" (Das Leben macht mir keine Angst) von Noémie Lvovsky vor Frische und Kraft strotzte. Die erfreulich dynamische Jugendgeschichte von vier Mädchen im Frankreich der Siebziger erhielt den Silbernen Leoparden der Kategorie "Junger Film". Die Dominanz französischer Filme zeigte sich übrigens schon zahlenmäßig im Programm.

Erwartungsgemäß ging der deutsche Beitrag "Der Einstein des Sex" leer aus. Rosa von Praunheims didaktisch humorvolle Biografie des Magnus Hirschfeld, eines der ersten Sexualforscher und Homosexuellen-Vorkämpfers, hatte außer den Ambitionen und originell eingesetzten Darstellern (die ganze Sander/Becker-Familie spielt mit) nicht viel Kino zu bieten.

Während das Sparen für den Wettbewerb keinen Gewinn brachte, erwies sich das Günstig-Konzept für die Retrospektive als Goldgrube: Die "Klasse von 1970: Joe Dante und die zweite Corman Generation" lieferte genügend Stoff für tagelanges Seevergnügen. Man konnte tief in den Perversionen des amerikanischen Wahnsinns schwelgen, sich persönliche Retros zu Joe Dante, oder John Sayles zusammen sehen. Von letzterem gab es endlich das international ignorierte Meisterwerk "Men with Guns" zu sehen: Ein alter, naiver mexikanischer Professor forscht im Hinterland seinen ehemaligen Studenten nach, die längst alle im dreckigen Guerillakrieg zwischen brutaler Armee und den Untergrund ermordet wurden. Unverstellt gewährt Sayles Einblicke in grausame Unterdrückungen, zynische Regierungsaktivitäten und erbärmlichste Lebensbedingungen für die indianische Urbevölkerung. Kein Wunder, dass so ein Film möglichst ungesehen bleibt. Das gleiche gilt für die bitterböse Satire "The Second Civil War" von Joe Dante, bei dem eine politische Farce im Stile von "Wag the Dog" mal nicht gut ausgeht.

Diese Retrospektive mit ungeschnittenen Versionen vieler TV-Serien und Kinoerfolgen bot insgesamt nicht nur mehr Filmvergnügen, sondern auch mehr Filme als das übrige Programm.

Auch auf der Piazza hingegen war Locarno noch sehenswert. Meistens. Die Weltpremiere der restaurierten Version von Hitchcocks "Die Vögel" ging stilvoll zum 100. Geburtstags des "Meisters der Spannung" über die Piazza-Leinwand. Danach folgt - zufällig vom gleichen Verleih? - mit "Bowfinger" eine und schlaffe Komödie von Steve Martin über einen kleinen Low Budget-Filmer. Höhnisch ist es, wenn sich ein Star-Komiker mit seinem eigenen, schlechten Buch über Leute lustig machen kann, die ihren Stoff meist nie auf die Leinwand bekommen. Ein amerikanischer Kritiker meinte, Martin hätte auch gleich irgendeinen bettelnden Obdachlosen anpinkeln können. Dümmlich waren dazu die meisten Scherze und Schauspielereien. Nur Eddie Murphy amüsierte ein wenig in einer Doppelrolle als Superstar Kid Ramsey, der ohne es zu wissen, Hauptdarsteller des Low Budget-Films wird.

Publikumsliebling auf der Piazza wurde der tibetanische Western "Himalaya, l'enfance d'un chef" (Himalaja, die Kindheit eines Anführers) von Eric Valli mit seinen grossartigen Bildern wogender Weizenfelder, ziehender Yak-Herden, seiner enorme Tiefe bei eindrucksvoller CinemaScope-Breite, den gewaltige Bergpanoramen und der Western-Ikonografie im ungewohnten Gewand. Nach dem Tod des Führers eines abgelegenen Dorfes im Dolpo, einer im Nordwesten des Himalaja auf 5000 Meter Höhe gelegenen Region, weigert sich der kräftigste junge Mann Karma, das rituelle Datum zum Aufbruch des Salztransportes einzuhalten. Es kommt zum Ausbruch der Feindseligkeiten mit dem Dorfältesten Tinlé und zum Wettkampf zweier Karawanen.

Verschneite Rindviecher auf eisigen Passhöhen, die staubige Stampede durch einen Bachlauf - alles Bilder die üblicherweise aus dem Weste(r)n kommen. Diesmal entstammen sie einem packenden Ethno-Eastern über fiktive "Salzmänner von Tibet". Regisseur Eric Valli, bislang Fotograf für Magazine wie National Geographic und Geo, betont Authentizität, auch wenn in den vordersten Rollen sehr schöne Menschen mit glänzenden Zähnen und glatter Haut strahlen. Ebenso wie beim unerträglich einseitigen Eröffnungsfilm "Est-Ouest" von Régis Wargnier ("Indochine", "Eine französische Frau"), der Russland und seine angeblich naiven Heimkehrer im Jahre 1953 herunter machte, ist nur die westliche zentrierte Sicht des Films bedenklich: Laufen die Generationskonflikte in Tibet wirklich ebenso ab wie im alten Griechenland oder im modernen Hollywood?

Aus der Kritikerwoche muss die sehr gelungene fiktive Dokumentation "Genet a Chatila" von Richard Dindo erwähnt werden: Im April 1986, am Tag nach den israelischen Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Chatila und Sabra sucht der krebskranke Schriftsteller Genet die Stätten des Grauens im Libanon auf und schreibt unter diesen Eindrücken nach langer Zeit wieder. Der Text "Vier Stunden in Chatila" sowie das Buch "Ein verliebter Gefangener", Genets letztes, sind für Richard Dindo die Basis einer filmischen Reise. Eine junge Palästinenserin, in Algerien geboren und in Paris lebend, liest als fragende Identifikationsfigur die Texte Genets, hört das Requiem Mozarts, das auch den Dichter bei der Arbeit an seinem letzten Buch dauernd begleitete.

"Die Revolution ist die glücklichste Zeit des Lebens," erklärte Genet, weshalb er sich den Palästinensern so verbunden fühle. Dies sagt auch Dindo immer wieder mit seinen Filmen wie "Ernesto Che Guevara", "Arthur Rimbaud, eine Biografie" oder "Une saison au paradis". Zu Genet gelang ihm ein außerordentliches Zusammenspiel aus (untypisch) vielsagenden Bildern, bewegender Musik und den emotional geladenen Texten.

Im letzten Jahr standen die Diskussionen um die Verträge von Festivaldirektor Marco Müller im Vordergrund. Mit vielen rührenden Momenten übergab heuer "Il Presidentissimo" Raimondo Rezzonico die Festivalleitung nach 19 Jahren an Guiseppe Buffi, zur Zeit Kulturminister im Tessin. Damit scheint die organisatorische und finanzielle Kontinuität in der sehr eigenen Tessiner Szene gesichert. 1999 wurde trotz Spar-Programms und Regenabenden, die jeweils 3000 Zuschauer kosten, eine zehnprozentige Steigerung der Besucherzahlen aus dem Hut gezaubert. An Interesse und Unterstützung für die Arbeit des künstlerischen Leiters Marco Müller scheint es also nicht zu mangeln. Nur muss sich die Qualität vor allem des Wettbewerbs wesentlich verbessern, wenn die erwünschte internationale Wahrnehmung (für die Agentur engagiert wurde) gelingen soll.

Das Festival ging am Samstag abend mit der Weltpremiere einer neuen, kürzeren Version von "The Legend of the Pianist on the Ocean". Guiseppe Tornatore, Regisseur des traumhaften "Cinema Paradiso" erzählt mit Tim Roth in der Hauptrolle die Lebensgeschichte eines am 1.Januar 1900 geborenen Pianisten, der auf einem Ozeanriesen aufwuchs und zum Virtuosen wurde.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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