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Locarno 1998

Filme:

Eröffnung

Mulan

Ein Festival verkauft sich ...

Ehrenleopard für Joe Dante

Small Soldiers

Preise

Goldener Leopard

Zhao Xiansheng (Herr Zhao)

Silberner Leopard (Junger Film)

Beshkempir (Ziehsohn)

Silberner Leopard (Neuer Film)

Rhaks-E-Khak (Der Tanz des Staubes)

Bronzener Leopard - Beste Darsteller

Kurz und schmerzlos

Elendige Filme

Meia Noite

Fette Welt

Megacities

23

Lucky People Center International

Das verflixte siebte Jahr!

Es war nervig, ärgerlich und störend, doch es kann nichtverschwiegen werden: Wichtigstes Thema bei Locarno 1998 war nicht derFilm. Nein, auch nicht das Wetter, das erstmal seit vielen Jahren mitelf meteorologisch perfekten Piazza-Abenden überzeugte. Dieangedrohte Kündigung des Festivaldirektors Marco Müllerdominierte Diskussionen und Schlagzeilen beim 51. Film- undBadefestival am Lago Maggiore. Mehr Einfluß auf das Programmund dafür mehr Geld lauten seine Kernforderungen, die allerdingsin einem Wust von Stellungnahmen, offenen Briefen undBeschwichtigungen untergingen. Die Schweizer Presse war nicht nurglücklich über das so ergiebige Thema in Zeitenunauffälliger Filme. Sie konnte auch reichlich Hämeüber den bei ihr anscheinend wenig beliebten Festivaldirektorausschütten. Ohne personelle Alternativen oder inhaltlichePerspektiven zelebrierte man genüßlich den Abschußdes exzentrischen und exponierten Programmachers. Das verflixtesiebte Jahr war vielleicht das letzte für Müller. SeinVertrag läuft im September aus, in Venedig ist der gleichePosten frei, bislang wurden keine Entscheidungen bekannt.

Im Hintergrund des Streits taucht auch immer wieder der Gedankeauf, das Festival in die politisch und ökonomisch führendeDeutschschweiz zu verlegen. Ernsthaft möchte sich jedoch kaumeiner dieses Sommerfestival mit Open Air und reichlich Badefreuden innördlichen Gefilden vorstellen! Bei all diesen Ränken, demZerren zwischen den drei großen Sprachgemeinschaften bleibt derWert des Festivals als prestige-trächtigste - einige meinen:einzige nennenswerte - Verstaltung des Schweizer Kantons Tessinunumstößlich. Eine nur mit Tourismus "gesegnete" Region,in der unter den gerade 250.000 Bewohnern hohe Arbeitslosigkeitherscht und deren Ferienhäuser und Appartments zum großenTeil in den Händen von Deutschschweizern ist, kann auf dieseManifestation von Hochkultur nicht verzichten. Die gerade anlaufendenFeierlichkeiten zum Jubiläum der Tessiner Eigenständigkeit,die vor 200 Jahren von Napoleon angeordnet wurde, machen denschwierigen und noch nicht vollendeten Einigungsprozeß einerGruppe eigenwilliger Kleinstterritorien deutlich. Da muß -koste was es wolle - ein Filmfestival der Welt für elf Tage einemoderne, aufgeschlossene Region vorspielen. Daß offeneMeinungsverschiedenheiten und öffentliche Diskussionen dieseShow stören, paßt vielen Beteiligten nicht. Er wurdevernebelt und ausgesessen. Am Abschlußabend erhieltFestivaldirektor Marco Müller nach seiner vielleicht letztenRede auf der Piazza den lange anhaltenden Applaus, die Jury lobteseine Auswahl in höchsten Tönen und beinahe kullertenTränchen - einige scheinen den egozentrischen Programmacher jadoch zu mögen. Derweil war der Lokalpate und "IlPresidentissimo" Raimondo Rezzonico von der Bühne verschwunden.Wahrscheinlich sah er in der Gelben Seiten unter "Festivaldirektor"nach ...

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DiePreise

In einem Wettbewerb ohne herausragende odergroßartig bewegende Entdeckungen wurden die Preisedementsprechend verteilt: Viele der zwanzig konkurrierenden Filmekamen in den Genuß eines breitgestreuten Preisregens. Wie schonoft wurde der letzte Film des Wettbewerbs mit dem ersten Preis, demGoldenen Leoparden, ausgezeichnet: "Zhao Xiansheng" (Herr Zhao) deschinesischen Regisseurs Lü Yue erzählt die Geschichte einesEhebruchs mit bekannten Elementen. Neu ist bei "Zhao Xiansheng",daß sich dieses nüchtern gezeichnete Drama in einerchinesischen Großstadt abspielt. Festivaldirektor MarcoMüller und seine Fans waren glücklich, daß er endlichöffentlich chinesisch plaudern konnte. Er lobte seine Entdeckungüber alle Maßen: Es sei einer der ersten wirklich modernenFilme Chinas. Regisseur Lü Yue, der mit einer Schweizerinverheiratet ist, gehört vom Alter her zur FünftenGeneration der so kategorisierten Regisseure. Ästhetisch undstilistisch sei er in der Sechsten Generation anzusiedeln. LüYue arbeitete als Kameramann von "Leben!"(1994), "ShanghaiTriad" (1995) und "Keep Cool" (1996) mit dem berühmtenRegisseur Zhang Yimou zusammen. Von 1987 bis 1992 lebte er inFrankreich. Seinen Erstling "Zhao Xiansheng" bezeichnet Lü Yueals "Zeugnis der Verwirrung und der Verzweiflung einer Generation inder heutigen chinesischen Gesellschaft."

Der in Locarno obligatorische Preisträgeraus dem Iran erhielt in diesem Jahr nur den Silbernen Leoparden:"Rhaks-E-Khak" (Der Tanz des Staubes), erzählt - wie aus demIran gewohnt - von einem Kind. Ein Junge mit wildem, zerzaustem Haarund sehr wachem Blick lebt und arbeitet in einer Ziegelbrennerei.Sein sachlich gefilmter, elementarer Alltag unter Sonne und Windfasziniert, auch ohne die kurzen Blicke, die er später mit einemjungen Mädchen austauscht. Ein Handabdruck, in einen Ziegelgepresst, ist schon ein großes Geschenk. Die wohl mutigstePiazza-Programmierung dieses Jahres - als Kontrastpunkt nach "Mulan"angesetzt - läßt nahezu ohne Dialoge einenpersonenintensiven Herstellungsprozeß von Ziegelndokumentarisch und sinnlich erleben: Vom Anmischen des Lehmsüber das Formen und Trocknen bis zum Brennen - eine immerwiederkehrende Abfolge, die das Leben der Menschen bestimmt. Der liveäußerst geschwätzige Regisseur Abolfazl Jalili lehnteganz bewußt Untertitel zum Film ab, er glaubt an eineuniversale Wirkung von (Bild-) Sprache.

Auch "Beshkempir" (Ziehsohn), der Gewinner desSilbernen Leoparden in der Kategorie "Junger Film", der Ersten undZweiten Werke, gehört zu Filmen, die mit einfachen Geschichtenund regionalem Charme überzeugen. Ästhetische Entdeckungenbleiben unter den Preisträgern aus. Die kirgisischeJugendepisode von Aktan Abdikalikov verbindet genregemäßeStreiche, sexuelle Neugierde und Ablösungskonflikte mit derIrriation eines Jungen, der erfährt, daß er einAdoptivkind ist. Nach einem alten kirgisischen Brauch schenkt dieDorfgemeinschaft unfruchtbaren Paaren ein entwöhntesKleinkind.

Den Bronzenen Leoparden für die besteLeistung unter den Schauspielern erhielt das multikulturelleMänner-Trio aus "Kurzund schmerzlos" Mehmet Kurtulus, Aleksandar Jovanovic und AdamBousdoukos. Zu Recht, denn das authentische Spiel der drei Jungs istder große Pluspunkt des deutschen Films über eineKleingangster-Clique, die in ihrer eigenen Gewalt untergeht.

Am Abschlußabend gab sich das Festival dem Gigantismus hin:Wie an der Börse wurden die Steigerungsraten im Publikumsbesuch(insgesamt über 140.000 Besucher) verkündet, die Piazza warberstend voll und aggressiv wie ein Bienenschwarm. Die Erwartung aufRoberta Begninis KZ-Komödie -Film "La vita e bella" wurde voneiner gewohnt ungeschickten und oft peinlichen Preisverleihung aufdie Spitze getrieben. So kennt und liebt man Locarno - auch wenndieses Jahr leider kein Edel-Leopard aus der Schatulle fiel. Erstmalsin der Festivalgeschichte mußte eine Zusatzveranstaltungfür den Piazza-Film anberaumt werden.
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ElendigeFilme

Allein derJahrtausend-Film "Meia Notte" von Walter Salles und Daniela Thomasblieb bei den Preisen unberücksichtig. Es geht um den Wechselins nächste Jahrtausend am 31.12.1999. Ist er etwas Besonderes?Während der brasilianische Regisseur Walter Salles eherskeptisch in die Zukunft blickt, sind die Figuren seines Filmsgeteilter Meinung. Innere Ruhe steht lautem Feiern und Knallengegenüber. Einige wollen schlafen, andere meinen, alles wirdanders, alles fängt wieder bei Null an: 2-0-0-0.

Der Sträfling Joao bekommt jedenfalls eine neue Chance. Amletzten Tag des Jahres bringt ihn eine getürkte Flucht in dieFreiheit - allerdings muß er dafür jemanden umbringen -ausgerechnet seinen alten Freund Chico. Währenddessen wird diejunge Maria von ihrem älteren Freund verlassen. Verzweifeltrennt sie durch die Straßen, zertrümmert die Wohnung. Ineindruckvollen Montagen zeigt "Meia Notte" die Wege durch die Favelasder Megacity Bueno Aires. Über- und aneinander türmen sichdie Elendshütten auf, dazwischen ein endloses Labyrinth vonTreppen und Wegen. Die spätere Flucht vor den Auftraggebern, dienun auch den Killer umbringen wollen, bringt Maria und Joao zusammen.In einem berauschenden Finale, im Strudel von Licht, Schatten undFeuerwerk, wird der Killer zum Retter. Auch er glaubt jetzt imRausch, daß alles wird, daß es im neuen Jahrtausend keintöten mehr in dieser Stadt geben wird. Für einen kurzenMoment ...

"Meia Notte" zeigt eine kleine, gelungene, runde Geschichte undwar nach dem Reglement im Wettbewerb von Locarno völligdeplaziert: Zum einen ist "Meia Notte" der vierte Film desbrasilianischen Berlinale-Siegers Walter Salles (mit "CentralStation"), aber da haben wir ja auch noch die Ko-Regisseurin,für die es erst der zweite Film ist. Dann wurde dieArte-Produktion aus der Reihe "Das Jahr 2000 - gesehen von ..."bereits beim TV-Festival Cologne Conference aufgeführt.Und aus welchem Grund taucht "Fette Welt", dervierte Film von Jan Schütte, in diesem Wettbewerb auf? Eine"junger Filmschaffender", eine neue "kinematographische Schule"? DasObdachlosen-Märchen aus dem Münchener Penner-Milieuschloß sich der Festivaltendenz an, soziale Themen auf dieLeinwand zu bringen: Ein Zyklus von "sozial benachteiligt" bis "ganzunten". Dabei muß sich die Mehrzahl der Filme dem Vorwurfstellen, eher dekorativ mit ihrem Hintergrund umzugehen.

Von Jan Schütte konnte man mehr erwarten: In seinen dreibisherigen Spielfilmen "Drachenfutter", "Winkelmanns Reisen" und "AufWiedersehen, Amerika" zeigte er sich sehr aufmerksam für dieLebensumstände von Menschen am Rande, bewies ein Gespürfür soziale Gefälle und Schieflagen. Da weckt eineGeschichte um Obdachlose große Hoffnungen. Hagen (JürgenVogel), mit dem bezeichnenden Nachnamen Trinker, hat sich und allesandere aufgegeben. Wenn sein Freundkreis mal wieder aus einem netteingerichteten Quartier geprügelt wird, schaut er distanziertzu. Bis er die junge Judith trifft, die vor ihren Eltern abhaut undbei den Obdachlosen landet. Sie legt das gute Herz im verlorenenTypen frei, macht aus dem besonders einsamen Wolf einen etwasgepflegteren Verliebten.

Liegt es daran, daß Schütte mit dem gleichnamigen Romanvon Helmut Krauser erstmals einen literarischen Stoff verfilmte? Dawo der Regisseur früher mit glaubwürdigen Menschenfesselte, scheitert er nun: Hölzerne, abgestandeneSzenesprüche, zuviel Schauspielerei bei den Hauptakteuren. Erstganz am Rande können einige Figuren interessieren. Zudem wurdendie Lebensumstände auf unverschämte Weise romantisiert.Roter Abendhimmel erwärmt die Szene, alle haben eingemütliches Zuhause, sei es im Rohbau oder unter einerBrücke. Ein Penner bekam sogar eine Wohnung vom Sozialamtausgestattet, die ihn allerdings depressiv macht! So stimmen wederFiguren noch Situation. Unter dem Kriterium der Authentizitätmüßte man hart urteilen: Schüttes "Fette Welt" isteine schmierige Welt, eine Schmieren-Tragödie.

Das politische Deutschland der Achtziger, die naivinterpretierte Welt von zwei jungen Computer-Hackern als"erschreckende Reise in jene düsteren Jahre" realisierte derjunge Hans-Christian Schmid nach seiner bissigen Erfolgskomödie"Nach Fünf im Urwald" in "23".

Außerhalb des Wettbewerbs lief derElends-Reisetrip "Megacities" von Michael Glawogger auf der Piazzaund eine ähnliche, nur extremer durchkomponierte Weltreisebegeisterte in der Kritikerwoche. Diesmal war das Glück gesucht,"Lucky People Center International" machte aus denunterschiedlichen Sinnsuchen vieler Menschen einen Sound- undBildtrack.

Eine Collage im Stil der Zeit, der Schnittrhythmus (mit dem manimmer mit muß) kommt von House- und Techno-Musik. Auch wenn esdiese Art zu schneiden selbstverständlich schon vorher gab (z.B.bei "Koyanisqaatsi" oder "Baraka"),liegt sie jetzt voll im Trend. Aus einem GöteborgerUnderground-Club ging die Gruppe von Künstlern namens "LuckyPeople Center" hervor. Die typischen Erkennungszeichen dieser Szenesind der Projektcharakter, der mit "Lucky People CenterInternational" firmiert. Gleichwertig werden Pauser undSöderberg für Regie und den hier erkennbar wichtigenSchnitt genannt.

Der Lucky-Film verbindt die Aussagen eines tibetanischenMönchs, eines amerikanischen Rappers, eines Weisen vom Stamm derNavajo, der lustorientierten Annie Sprinkle, verschiedenerZivilisationsflüchtlinge, einer Voodoo-Priesterin, einesmittlerweile im Gruppenselbstmord erlösten Sektenführersund vieler anderer im Beat der Zeit. Im Idealfall gibt dieMusikalität des Sprachflusses beim Rapper Cashus D die Taktfolgevor, ansonsten wurden die Bilder und Aussagen auf einen späterunterlegten Rhythmus geschnitten, so daß der Film auf jedenFall eines ist: Mitreißend! Nach einer zusammenfassendenOuvertüre steigert sich "Lucky People Center International" zusehr aggressiven und erschreckenden Sequenzen um dann das Opus sanftausklingen zu lassen - "Chill out" in Club-Sprache. Zwischendurchbleibt Zeit für kleine Geschichten und Lebensläufe. Einabgedrifteter Gibbon-Forscher und -Fan singt mit den niedlichenÄffchen und berichtet von seinen ekstatischen Erfahrungen nachdem Gesang: Der Mensch muß tanzen! Der Rhythmus ist daMaß aller Dinge.

Auf die Frage, was bei dem Zerstückeln von Sätzen undSinnen im Rhythmus der Musik an Aussage übrigbliebe, meinte ErikPauser, daß es ihnen um eine Gesamtheit ginge, die genau durcheine solche Form ausdrückt wird. "One World, One Voice"hieß ein ähnlich klingender, von Bob Geldorf initiiertermusikalischer Kettenbrief. Ein weiterer, spannender Widerspruch liegtin der Behauptung, daß die rhythmus-bestimmte House- undTechnomusik eine direkte Verbindung zu den Wurzeln unsererGesellschaft darstellt. Diese Ursprünge werden in diesem Filmallerdings möglichst rein und technikfrei gesucht. Etwas, wasnicht gerade auf diese moderne Musik und ihre Gesellschaftzutrifft.

Auch wenn es nicht der angedachten Schweizer Gewaltenteilungzwischen Dokumentation (Nyon), Schweizer Produktionen (Solothurn) undSpielfilm (Locarno) entspricht, besonders viel bewegte sich inLocarno beim Zusammenspiel von Fiktion und Dokumentation. Die SektionKritikerwoche, die sich gerade auf diese Überschreitungenspezialisiert hat, lieferte wieder die spannendsten Momente desFestivals.

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Eine Festival-Kritik von GünterH. Jekubzik

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