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Reiches am Rande

Die Nebensektionen in Cannes

Die "Quinzaine des Réalisateurs" feierte ihre 30. Ausgabe. Die simple Aufzählung all der wichtigen, epochalen Filme, die in den letzten Jahrzehnten in der vom Hauptfestival ungeliebten Nebensektion vorgestellt wurden, wäre die geeignetste Beschreibung dieses cineastischen Treffpunkts am Rande des Festivalgetöses von Cannes. Die "Vierzehn Tage der Regisseure" pflegen seit 1968 im jung gebliebenen Programm einen speziellen Anspruch an Pluralität: In der "Quinzaine" 1998 amüsierte und erschreckte Todd Solondz mit seiner amerikanischen Familiengeschichte "Happiness", Ziad Doueiri ließ libanesischen Bürgerkrieg in "West Beyrouth" aus der Perspektive eines kecken Jugendlichen miterleben, Abderrahmane Sissako entführte mit "La vie sur terre" in ein Dorf Malis, Ana Kokkinos warf in "Head On" die Kinder griechischer Emigranten in den Konflikt zwischen Tradition und dem modernen Leben Australiens. Nicht nur Regisseure, auch Filmländer wurden durch die anspruchsvolle Auswahl erschlossen. Der französische Teil Kanadas 1973 mit Denys Arcand, 1978 die Phillipinen mit Lino Brocka, 1984 der erste isländische Film in Cannes, immer wieder Afrika und Asien und in den Siebzigern der deutsche Autorenfilm.

Nach 30 Jahren beklagte Pierre-Henri Deleau, der Leiter der "Quinzaine", energisch, daß mittlerweile nicht mehr die Regisseure entscheiden, wo ihr Film gespielt wird. "Cannes ist zum Festival für ausländische Filmverkäufer geworden, ein Kommerzfestival!" Mit "Un Certain Regard" kopierte das Hauptfestival die "Quinzaine" und versucht, ihr die Filme wegzuschnappen. "Manche Leute hoffen auf den Wettbewerb und entdecken erst in letzter Minute, daß ihr Film bei "Un Certain Regard" läuft." Auch mit der räumlichen Ausgliederung soll die "Quinzaine" (wie die "Semaine de la Critique") ins Abseits geschoben werden. Die selbständige Organisation ermöglicht jedoch auch eine freundlichere Atmosphäre. Das Publikum - viele Cineasten mit ganz banalen Eintrittskarten - ist merklich jünger.

"Slam", der diesjährige Gewinner des Nachwuchspreises "Camera d'Or", lief in der "Quinzaine": Dem jungen Schwarzen Ray Joshua (Saul Williams) erwartet in Washington wegen geringfügigen Drogenbesitzes eine unverhältnismäßige lange Haftstrafe. Im Untersuchungsgefängnis setzt Ray zwischen den Fronten der Gangs mit seinen rasanten Rap-Gedichten ein Zeichen der Gewaltlosigkeit. Bei einem "Slam", einem Dichter-Wettbewerb, feiert das Publikum den begnadeten Künstler, doch noch immer droht der lebensgefährliche Knast. Engagiert, authentisch und lebendig, wie die Kunst des Rap, inszenierte Regisseur Marc Levin diesen erfrischend jungen Film. "Slam" erhielt bereits in Sundance den Großen Preis der Jury.

Bei den hunderten Werken unterschiedlichster Stile und verschiedenster Nationen, die das Filmfestival in seiner 51. Ausgabe präsentierte, drängte sich ein Thema ungewohnt deutlich auf: Mindestens fünf Filme handelten von Kindesmißbrauch und Inzest. Im Wettbewerb zentral bei Thomas Vinterbergs "Festen", dramatisch am Rande bei Hartleys "Henry Fool", in einer traumartigen Unbestimmtheit bei Claude Millers "La Classe de Neige". Und in der "Quinzaine" als tiefschwarze und grell satirische Familienkomödie: Die drei Jordan-Schwestern böten jede für sich einer umwerfenden Satire Stoff. Joy ist die Versagerin, die mit 30 Jahren weder Kerl noch Karriere hat. Helen ist als Autorin von erfundenen Vergewaltigungsgeschichten die Erfolgreiche und Bewunderte, wünscht sich aber einen Mann, der sie überhaupt nicht schätzt. Trish hat als Hausfrau und Mutter alles, was sie sich wünschen sollte, wenn nicht der umgängliche Gatte Bill auf kleine Jungs stehen würde. Dazu gibt es einen anonymen Anrufer und eine Frau, die ihren Haumeister zersägte. Das ganze nennt sich dann ironisch "Happiness" - Glück auf amerikanisch!

Todd Solondz hat nach "Welcome to the Dollhouse" erneut die amerikanische Familie mit schärfster Satire seziert. Seine Figuren bringt er in kürzester Zeit mit markanter Gestik und Mimik, mit treffenden Sätzen gnadenlos zum Leben. Hemmungs- und schamlos mixt er so ein Gegenmittel zur Prüderie und Heuchelei, die den us-amerikanischen Film ansonsten beherrschen. Daß die Mißbrauchshandlungen von Bill ausgeblendet werden, dieser als verständnisvoller Vater durchaus Sympathien gewinnt, könnte nebenbei der Mißbrauchsdiskussion einige Nuancen hinzufügen. "Happiness" erhielt den Preis der FIPRESCI-Jury für die Nebensektionen.

Äußerst kontrovers wurde der französische "Seul contre tous" aufgenommen. Ein 50-jähriger Metzger kehrt nach Gefängnisaufenthalt und weiteren beruflichen wie privaten Frustrationen nach Paris zurück. Die Tonspur "kotzt" seinen endlosen, aggressiven Gedankenstrom von Rassismen, Nationalismen und Sexismen aus. Erste Gewalttaten und das Scheitern jeder weiteren Hoffnung machen den Film zu einem angstvollen Erwarten des scheinbar unabwendbaren Amoklaufs. Doch ein Treffen mit der stummen Tochter, ein als erlösend dargestellter Akt des Inzests, wenden die Gewalt ab. Die Kamera löst sich erstmals von den harten, starren Aufnahmen einer grauen, dreckigen Stadt und schwenkt ausgleichend zu einem sonnigen Parispanorama. In der Erzählform erinnert Gaspar Noés arbeitsloser "Taxi Driver" an "Mann beißt Hund" oder "Henry. Portait of a Serial Killer". Fortwährende akustische Schreckmomente verstärken das Unbehagen. Die internationalen Journalisten Cannes wählten den stilistisch auffälligen Film zum besten Beitrag der Sektion "Semaine de la Critique". Es ist jedoch fraglich, ob dem Film eine ähnliche Karriere bevorsteht wie dem letztjährigen "Semaine"-Film und niederländischen Oscar-Sieger "Karakter".

Un Certain Regard In der Reihe "Un certain regard" faszinierte "La Pomme" (Der Apfel), der Erstling der 18-jährigen Iranerin Samira Makhmalbaf. Zusammen mit ihrem berühmten Vater bearbeitete sie die reale Geschichte zweier, zwölf Jahre lang von ihren Eltern eingesperrter Mädchen und ließ die Beteiligten selbst ihre Erlebnisse nachspielen. Mit der für den iranischen (Kinder-) Film so typischen Mischung aus Leichtigkeit und Poesie erleben wir, wie der 65-jährige Vater von einer trickreichen Sozialarbeiterin bezwungen wird. Die ohne sozialen Kontakt körperlich und sprachlich zurückgebliebenen Mädchen erschließen sich zuerst die Gasse vor dem Haus und dann auch Freunde. "La Pomme" nur über das westliche Stereotyp "Frauensituation im Iran/Islam" zu verstehen, wäre eine arge Verengung des an Symbolik und Emotionen reichen Films.

Der Schriftsteller Paul Auster, als ehemaliges Jurymitglied mit dem Rummel von Cannes bestens vertraut, machte schon bei "Smoke" und "Blue in the Face" Bekanntschaft mit dem Filmschaffen. Jetzt inszenierte Auster erstmals allein. Harvey Keitel spielt den Saxophonisten Izzy Maurer, der während eines Konzerts angeschossen wird. Ein geheimnisvoller Fund unter grausamen Umständen verändert zusätzlich Izzys Leben: Ein Stein, der unter fremdem Stimmengewirr aus einer Reihe von Schachteln geschält wird, leuchtet im Dunkeln magisch blau und beginnt zu schweben. Die junge Celia (Mira Sorvino), entdeckt als weitere Wirkung ein bislang unbekanntes Glücksgefühl. Izzy und Celia verfallen einander in einer überschwenglichen Liebe. Da Celia auch noch die Hauptrolle einer neuen Lulu-Verfilmung erhält, scheint die glückbringende Wirkung des Steins erwiesen. Paul Auster hielt sich nicht an die Regeln, nach denen man einen Film durchgehend packend und kurzweilig gestaltet. Dafür erfreute seine kaum wiedererkennbare Lulu-Geschichte mit einer unkonventionellen, wechselvollen Handlung und reichlich Gedankenanstössen, die üblicherweise nicht zum Film finden. Ganz so wie die Nebensektionen Cannes den vom Hauptfestival organisatorisch erschwerten Weg zu ihren reichhaltigeren Filmen immer wieder mit thematischen und stilistischen Entdeckungen lohnen.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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