Marco Müller verläßt Locarno

Einen chinesischen Verbotsfilm als "Überraschung" in den Wettbewerb und letztlich zum Goldenen Leoparden zu führen - das war der letzte Locarno-Coup des bemerkenswerten Festivaldirektors Marco Müller. Neun Jahre bestimmte er das Programm beim Schweizer A-Festival. Am letzten Tag der 53.Ausgabe überraschte er mit seinem unerwarteten Rücktritt. Nach dem Unfalltod des Festivalpräsidenten Giuseppe Buffi und dem Fortgang des künstlerischen Leiters steht dem Direktorium von Locarno eine umfassende Neuorientierung bevor.

Wer Marco Müller jemals auf seiner Festivalbühne in Locarno erleben durfte, spürte sofort die enthusiastische Persönlichkeit mit ihrer energischen Filmbegeisterung. Doch der bereits multinational aufgewachsene Cineast gilt auch als streitbarer Geist, im Umgang soll er schwierig sein. Dass so ein kantiger Charakter dem Festival kein Profil geben konnte - wie einige seiner Kritiker bemerken, lag daran, dass Müller sich in seiner Filmleidenschaft nicht festlegen ließ. Schon in Rotterdam bot sein Programm eine Vielfalt der Genres, Stile und Formate. Müller sei eher ein leidenschaftlicher Kino-Gourmant als ein Gourmet, bemerkte das Schweizer Radio RSI zum Abschied. Dabei wußte er jedem Werk in großen Worten seine besondere Position in einer dynamisch verstandenen Entwicklung der Filmkunst zu geben, auch wenn einige Piazza-Programmierungen daneben lagen. Zitatfertige Sätze produzierte das Sprachgenie im Minutentakt, sein Katalogtext war nie die übliche Floskelsammlung, sondern immer streitbares Essay.

Der charismatische Cineast brauchte zur Ausstrahlung nur selten Anzug mit Krawatte und hat viele Freunde in aller Welt, die er mit ihren Filmen immer wieder einlud. Die Vorliebe für asiatische und iranische Filme paßte zu Locarnos Tradition. Dass vehement verteidigte Autorenkonzept führte zur reichhaltigen Nebenreihe "Cineastes du Present", aber auch zu viel deplaziertem Mainstream, in dem der gesuchte Autor unter Tricktechnik und Studiokalkül verschwand.

Zum Abschied gab es Standing Ovations auf der überfüllten Piazza Grande - aber anders als 1991 bei David Streiff, Müllers umgänglicheren Vorgänger: Es dankte weniger das Herz für unvergeßliche Filmmomente, das Publikum zollte einem cineastischem Kämpfer seinen Respekt.

Marco Müller steigt nach seinen Jahren in Pesaro, Rotterdam und Locarno aus dem zur Zeit wieder sehr bewegten Festivalreigen aus. Er will jetzt Filme produzieren. An der von ihm initiierten Stiftung Montecinemaverità für Filme "aus Osteuropa und der südlichen Hemisphäre" hing sein Herz schon immer. Bei "Fabrica", einer von Benetton finanzierten Kreativfabrik, der bis vor kurzen auch der provokative Werbefotograf Olivero Toscani angehörte, leitet Müller die Filmabteilung. Vielleicht wird er schon im nächsten August wieder auf der Piazza Grande stehen.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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