Asiatischer Film in Locarno prägend

Asiatische Filme gaben beim Internationalen Filmfestival von Locarno erneut den Ton an. So war der Erfolg des chinesischen "Baba" (Papa) bei der 53. Ausgabe des Festivals am Lago Maggiore (2. bis 12. August) in mehrerer Hinsicht ein konsequentes Ergebnis. Der Film des vor allem bei der chinesischen Jugend beliebten Autoren, Essayisten, Regisseurs und Produzenten Wang Shuo erhielt den Golden Leoparden im Werte von 40.000 Schweizer Franken.

Lange Zeit wurde "Baba" als "Überraschungsfilm" geheim gehalten. Derart inszenierte der scheidende Festivalpräsident Marco Müller einen letzten gelungenen Coup für die von ihm geliebten Filme Asiens. "Baba" wurde 1996 verboten. Dank der "Überraschungs-Taktik" Müllers trafen jedoch Film und Regisseur ungehindert in Locarno ein, wo die einzige Kopie von "Baba" als Glücksfall und Meisterwerk im Umfeld eines schwachen Wettbewerbs begrüßt wurde. Die selbst für westliche Augen ungewohnt freien (Los-) Lösungen eines Jungen von seinem unsicheren, alleinerziehenden und systemkonformen Vater zeigt Wang Shuo mit viel Spaß, sorgfältigen Bildern, großer Filmmusik, politischen Stellungnahmen und dem Charme liebenswerter Jugendgeschichten, den man auch von Truffaut kennt.

In einem "jungen Wettbewerb" wie dem von Locarno finden sich häufig solche Geschichten des Erwachsenwerdens: Der Gewinner des Silbernen Leoparden in der Kategorie "Neuer Film" (20.000 SFr) "Xilu Xiang" läßt seinen "Kleinen Cheung" - so die Übersetzung - als Auslieferer für den väterlichen Imbiß durch das Hong Kong kurz vor der Rückgabe an China streifen. Fruit Chan vollendet mit der sympathisch leichten Geschichte seine mit "Made in Hong Kong" und "The longest Summer" begonnene Hong Kong-Trilogie.

In den weiteren Preisen der Hauptjury spiegelt sich die starke Präsenz deutschsprachiger Filme im diesjährigen Locarno-Programm: Der bereits vor deutschem Publikum durchgefallene "Manila" von Romuald Karmakar ("Der Totmacher") erhielt unbegreiflicherweise den Silbernen Leoparden im Wettbewerb "Junger Film". Die Darstellerpreise, Bronzene Leoparden, gingen an die Bernerin Sabine Timoteo für ihre naive Prostituierte Marie in dem mißglückten, deutschen Amour Fou-Film "L'amour, l'argent, l'amour" von Philip Gröning ("Die Terroristen"). Das Ensemble der sympathischen österreichischen Herren-Komödie "Der Überfall" von Florian Flicker ("Halbe Welt", "Suzie Washington") darf sich verdientermaßen den Preis für bestes männliches Schauspiel teilen: Die Geschichte eines misslungenen Überfalls, die den ebenso verzweifelten wie unfähigen Täter (Roland Düringer), einen Herrenschneider (Josef Hader) und dessen mißgünstigen Kunden (Joachim Bissmeier) in einer verzwickten Situation zusammensperrt, überzeugte als einzige reine Komödie mit gutem Spiel und kabarettistischen Qualitäten. Flicker feierte auf der Preisverleihung die Auszeichnung als "schlagkräftiges Argument gegen die Kürzungen der Regierung".

Die meiste Aufregung gab um einen programmierten Skandalfilm: "Baise-Moi", in Frankreich verboten und deshalb viel diskutiert. Doch im Gegensatz zu anderen Werken aus Frankreich ("Romance X"), die mit den öffentlich gängigen Sexualpraktiken spielen, ist der Film der Romanautorin Virginie Despentes nur einer der immer wieder modischen Brutalo-Filme. Diesmal wurde bei Vergewaltigung und den folgenden Racheakten die Grenze zur Pornographie ignoriert und das Motto lautet: "Zwei Frauen sehen rot". Mit diesem hüllenlosen "Thelma & Louise" ließe sich wieder einmal trefflich das Maß der Gleichberechtigung in unseren Gesellschaften ausloten. Leider liefert "Baise-Moi" außer der Schlagzeile kein weiteres Material für diesen Prozeß.

Im wie üblich kaum noch mittelmäßigen Wettbewerb fiel noch Michael Almereydas "Hamlet" auf. Nach dem genialen Vampirfilm "Nadja" und der originellen Hexengeschichte "Trance" war man gespannt auf die Interpretation des innovativen Amerikaners. Zwar erinnert die Übertragung ins heutige New York mit Kyle MacLachlan als mörderischen Chef der "Denmark Corp." und die Verlagerung des originalen (!) Texte auf Träger wie Video, Anrufbeantworter oder Handy an Luhrmanns "Romeo und Julia". Allein Almereyda bleibt beim Kunstwerk mit einer Ausstattung zwischen Ikea und Bauhaus. Treffend, aber nicht begeisternd auch die weitere Besetzung mit Ethan Hawke als Hamlet, Sam Shepard als Geist, Bill Murray als Polonius und Julia Stiles als Ophelia. Der Rest ist Reden.

Time Code
Ähnlich anstrengend war der bemerkenswerteste Film des Festivals: Mike Figgis setzte mit dem Experiment "Time Code" eine Grenzmarke des narrativen Films. Das durchgehend viergeteilte Bild erzählt von einer Hand voll Menschen rund um den Filmproduzenten Alex (Stellan Skarsgard). Die Handlung springt dabei nicht per Schnitt von einer Szene zur zeitlich nächsten. Das Auge wandert (geleitet von auf- und abgeregeltem Ton) zum gerade relevantesten Bildausschnitt. Die vier Teile der Handlung wurden als nahezu ununterbrochene, synchrone (!) Plansequenzen von jeweils 90 Minuten Länge mit Digitalkameras aufgenommen. Dadurch "treffen" sich immer wieder die Bildausschnitte, um dann - verschiedenen Personen folgend - wieder auseinander zu driften.

Montage bekommt so einen anderen Wert, "Komposition" wäre beim Musiker und Komponisten Figgis der bessere Begriff. Als besonderes, regulatives Element fällt so auch der Soundtrack auf, dessen Stücke nicht wie sonst unter dem Zwang kurzer Szenen beschnitten werden. Das Experiment stößt allerdings auch im Ohr an seine Grenzen. Da wir nur durch Drehung des Kopfes selektiv hören können, muss der Komponist die Tonauswahl vorgeben. Ein wirklich interaktives Erlebnis auf CD-ROM liegt allerdings sehr nahe. Dazu ist das Ganze, wie bei Figgis zu erwarten, auch noch ein guter und origineller Film.

Enttäuschend bunte Piazza
Bei den berühmten Abendvorstellungen unter freiem Himmel auf der Piazza Grande - neuerlich ausgeleuchtet in den modernen iMac-Farben - enttäuschte das Schweizer Filmfestival. Das Aushängeschild am Lago Maggiore, die Riesenleinwand (26 x 14 Meter) für 9000 Zuschauer, verkommt mehr und mehr zu einer konzeptlosen Abspielfläche. Sie hat unleugbar ihren einzigartigen Reiz und bei einem langjährigen, etwas berufsblinden Locarno-Fan muss es erst einmal drei Tage regnen, damit man sich wieder auf die Piazza freut und dann sogar eine hirnrissige Ballerorgie wie "Shaft" relativ gelassen erträgt. Weiterhin belasteten simple Geschichten aus Hollywood ("X-Men") und England ("The closer you get") und Deutschland ("Crazy") das Image des Festivals mehr als die Regentage. Auch ein historischer Filmabend fehlte. Dabei hätte ein Beispiel der umfangreichen Retrospektive "Eine andere Geschichte der sowjetischen Films", von der Premiere des "Panzerkreuzer Potemkin" (1926) bis zum Ende des Prager Frühling (1968), auch sein Piazza-Publikum verdient.

Marco Müller verläßt Locarno
Doch das wird sich alles ändern, denn der charismatische Festivaldirektor und Programmmacher Marco Müller gab am letzten Tag seinen Abschied bekannt. Da der erst im September 1999 angetretene Festivalpräsident Giuseppe Buffi wenige Tage vor dem Festival verstarb, wird die Ausgabe 2000 als das Jahr des Abschieds in die Locarno-Analen eingehen.

Neun Jahre bestimmte Marco Müller das Programm beim Schweizer A-Festival. Wer ihn jemals auf seiner Festivalbühne in Locarno erleben durfte, spürte sofort die enthusiastische Persönlichkeit mit ihrer außergewöhnlichen Filmbegeisterung. Doch der bereits multinational aufgewachsene Cineast gilt auch als streitbarer Geist. Dass so ein kantiger Charakter dem Festival kein Profil geben konnte - wie einige seiner Kritiker bemerken, lag daran, dass Müller sich in seiner Filmleidenschaft nicht festlegen ließ. Schon in Rotterdam bot sein Programm eine Vielfalt der Genres, Stile und Formate. Dabei wußte er jedem Werk seine besondere Position in einer dynamisch verstandenen Entwicklung der Filmkunst zu geben. Zitatfertige Sätze produzierte das Sprachgenie im Minutentakt, sein Katalogtext war nie die übliche Floskelsammlung, sondern immer streitbares Essay.

Die Vorliebe für asiatische und iranische Filme paßte zu Locarnos Tradition. Dass vehement verteidigte Autorenkonzept führte zur reichhaltigen Nebenreihe "Cineastes du Present", aber auch zu viel deplaziertem Mainstream, in dem der gesuchte Autor unter Tricktechnik und Studiokalkül verschwand. Zum Abschied gab es Standing Ovations auf der überfüllten Piazza Grande - aber anders als 1991 bei David Streiff, Müllers umgänglicheren Vorgänger: Es dankte weniger das Herz für unvergeßliche Filmmomente, das Publikum zollte einem cineastischem Kämpfer seinen Respekt.

Marco Müller will jetzt Filme produzieren. An der von ihm initiierten Stiftung Montecinemaverità für Filme "aus Osteuropa und der südlichen Hemisphäre" hing sein Herz schon immer. Vielleicht wird er schon im nächsten August wieder mit einem asiatischen Film auf der Piazza Grande stehen.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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