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The Last Days / Shoah Foundation

Die Sondervorführung von "The Last Days", der Dokumentation über fünf ungarische Juden und ihr Überleben des Holocausts war wahrlich ein "Special Event". Als dritte Dokumentation der "Shoah Foundation" von Produzent Steven Spielberg und Regisseur James Moll im Zoo-Palast außer Konkurrenz vorgestellt, ist "The Last Days" jedoch auch als "Waschzettel" für ein wesentlich umfangreicheres Werk zu sehen:

Die Festival-Stippvisite Spielbergs drehte sich nur am Rande um Film. Er war für die von ihm gegründete "Survivors of the Shoah - Visual History Foundation" unterwegs, dankte deutschen Freiwilligen, sammelte Gelder. Spielberg gründete 1994 mit der Erfahrung und den Einnahmen aus "Schindlers Liste" die "Shoah Foundation", setzte damit ein deutliches Zeichen einer Rückbesinnung auf sein eigenes Judentum. Shoah ist das hebräische Wort für Holocaust und die Stiftung will möglichst viele Zeugenaussagen von Juden, die dem organisierten Massenmord der Nazis entkamen, für die Nachwelt festhalten. Da diese Menschen alle über sechzig Jahre alt und oft auch körperlich schwer geschädigt sind, ist Eile geboten. Bislang wurden über 50.000 Interviews in 57 Ländern und 31 Sprachen geführt.

Nach diesem für alle Beteiligten emotional sehr schweren Interviewteil erfolgt die technische Aufbereitung des gigantisches Materialberges - mit über 13 Jahren an Gesamtlaufzeit. Ein Projekt, das zu beurteilen höchstens späteren Generationen ansteht. In "The Last Days", dem "Film zur Stiftung", erzählen Juden aus Ungarn, wo die Vernichtung angesichts des schon verlorenen Krieges noch einmal besonders effektiv durchgeführt wurde, wie sie Eltern und Geschwister in die Gaskammern gehen sahen, wie sie die verkrampften, ineinander verhakten Leichen ihrer Freunde aus den angeblichen Duschräumen in die Krematorien bringen mußten. Wenn schon eines dieser Schicksale untragbar und unerträglich erscheint, wie unvorstellbar ist dann Grauen 50.000-fach? Doch das millionenfache Morden von deutschen Nazis erfordert als Antwort vielleicht eine übermenschliche Leistung des Gedenkens und der Mahnung.

Weil das Projekt den individuellen (Lebens-) Horizont überschreitet, ist die Frage der Archivierung so wichtig: Wie erhalte ich Zeugenberichte für Zeiträume, deren Einheit nicht mit Jahren oder Jahrzehnten zählt, sondern mit Generationen? Ein Stück Film erzählt seine Geschichte nur mit sehr viel Glück ein Jahrhundert lang, das heutige, "moderne" Material nicht mal 30 Jahre. Beim Papier das Gleiche: Dank neuer Materialien werden Bücher durch ihre eigene Säure zersetzt. Und in Stein meißeln lassen sich die Geschichten auch nicht mehr.

Die bald dahinscheidende Kulturtechnik Video zeigt zudem, daß nicht nur um das geeignete Material, sondern auch um eine möglichst langlebige, universale Entschlüsselungstechnik zu bangen ist. Die digitale Kodierung von Filmen scheint zur Zeit - zumindest für die Materialfrage - die gängigste Lösung, aber wer glaubt, daß CDs ewig halten, hat noch nie an der dünnen Oberfläche dieses Speichermediums gekratzt.

Bliebe das Internet: Eine Philosophie des weltweiten Netzes besagt, daß es durch seine chaotische Verteilung das sicherste Gedächtnis bietet: Die Information fließt an Millionen User und bliebe erhalten, auch wenn Kriege oder Naturkatastrophen ganze Landstriche verwüsten. (So ähnlich war es ja auch von den militärischen Erfindern des Internet geplant.) Doch Spielberg will die Erinnerungen der Überlebenden nicht unkontrolliert zur Verfügung stellen. Das Internet beinhaltet für ihn die Gefahr des Mißbrauchs.

So werden die durchnumerierten Interviews mit über 50.000 überlebenden Juden in einem zentralen Archiv digital gespeichert und in den fünf (mit Berlin vielleicht sechs) Dokumentationszentren der " Shoah Foundation" über Glasfaserkabel zur Verfügung gestellt. Die Begegnung mit der Erinnerung soll interaktiv werden: Ob vor Monitoren mit Suchfunktion oder mit ähnlich funktionierenden CD-ROMs am eigenen Bildschirm. Eine erste CD-ROM wird in us-amerikanischen Schulen zum Einsatz kommen. Die "Shoah Stiftung" scheut sich allerdings, sie einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Eine verständliche Vorsicht, immerhin sprechen Wynona Ryder und Leonardo DiCaprio die Kommentare für ein bestimmtes Zielpublikum, von dem Spielberg in einem Stern-Interview sagte, in Amerika "müßten wir jedesmal Konfetti streuen und Feuerwerke abfeuern, wenn jemand etwas lernen soll."

Unter diesen Bedingungen ist auch die (mittlerweile von Kinowelt angekaufte) Dokumentation "The Last Days" zu sehen. In typisch amerikanischer Doku-Manier wurde Geschichte flott abgerissen, historisches Bildmaterial bedenkenlos dramatisch-dekorativ eingesetzt. Die immer wieder aufs Neue erschreckenden und erschütternden Lebensgeschichten enden jeweils mit einer pathetischen Hymne auf die amerikanische Freiheit. Dabei gerieten die Erinnerungen der Überlebenden teilweise in den Hintergrund. Viele ähnliche Dokumentationen widmen sich ihren Menschen intensiver, "The Last Days" scheint immer auch Trailer für die "Shoah Foundation" zu sein.

Nun werfen gigantische Projekte auch besonders große Schatten, bei diesen Dimensionen geraten ästhetische Kriterien in den Hintergrund. Dennoch sollte mit Ruhe bedacht werden, welchen Einfluß die "Shoah Foundation" mit ihren standardisierten Interviews und dem interaktiven Ansatz auf den Dokumentarfilm haben wird. Wie tief werden sich Nutzer in das Grauen hineinklicken? Liegt auf den Wegen der Erinnerung zuviel Popcorn als Köder für eine uninteressierte Jugend?

Gewiß ist, daß Spielbergs Rede vom einmaligen Zeitpunkt seiner Aktion nicht korrekt ist. Zwar müssen die Interviews bald geführt werden, aber Zeugnisse in verschiedenen Formen zwischen Dokument und Kunst gab es auch in den Jahrzehnten vor der "Foundation"! Allein Claude Lanzmanns als "umfassend" bezeichnete Dokumentation "Shoah" setzte künstlerische und inhaltliche Maßstäbe, hinter denen "The Last Days" weit zurückbleibt. Daneben gibt es extrem persönliche Geschichten wie das filmische Gespräch der Israelin Tsipi Reibenbach mit ihren Eltern in "Wahl und Schicksal" (Forum 1994). In der Form des Comics "Maus" arbeitete Art Spiegelman die Erinnerungen seines Vater auf. Und schon die Zeugenaussagen in den Nazi-Prozessen, etwa beim Eichmann-Verfahren, dessen Videoaufzeichnungen im Panorama-Film "The Specialist" in eine neue Form gebracht wurden, erzählten erlebte Geschichte. Doch vielleicht gelingt es Spielberg erneut, sein Anliegen in einer - seit der TV-Serie "Holocaust" - nie gekannten Popularität zu verbreiten.

Schon der Kinoerfolg "Schindlers Liste" machte seine Thematik ungemein populär, gleichzeitig verstellte er den Blick auf viele andere, ebenso wichtige Filme zum Holocaust. Als Spielberg "Schindlers Liste" in Polen drehte, ging anderen Regisseuren der Schwarzweiß-Film aus. Ähnlich fürchten amerikanischen Institute, die seit Jahrzehnten mit bescheideneren Mitteln gleiche Ziele verfolgen, eine Monopolisierung der Erinnerung und das (finanzielle) Ende ihrer Arbeit. Viele Mäzene finden sich lieber als Millionen-Spender auf der Spielberg-Liste.

In Deutschland haben sich die Verlage Burda, Springer und Bertelsmann als "Partners in Tolerance" zusammengetan, um die "Shoah Foundation Berlin" zu unterstützen. Eine eigenständige CD-ROM für den deutschen Schuleinsatz soll als erstes Projekt produziert werden. (Überhaupt wird Spielberg als erlösender Messias für die deutschen Befindlichkeiten begrüßt: Er erhielt das Bundesverdienstkreuz und die Shoah-Foundation soll in dem Komplex um das umstrittene Berliner Holocaust-Denkmal eine Heimat finden.)


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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