Vera Drake

Großbritannien, Frankreich 2004 (Vera Drake) Regie: Mike Leigh mit Imelda Staunton, Philip Davis, Daniel Mays, 125 Min.

Vera Drake ist eine liebenswerte Dame, sehr emsig hilfsbereit und der Engel der Nachbarschaft. Immer ein Lied auf den Lippen und einen Tee in der Kanne. Im Nachkriegs-London genießt sie mit ihrer kleinen, knuddeligen Familie ein bescheidenes Glück, das vor allem aus dem sozialen Miteinander besteht. Selbst aus der schüchternen Tochter und dem verschrobenen Hausgast wird ein niedliches Pärchen. Doch zwischen ihrem Job, den Einkäufen und der Pflege der Mutter hilft Vera Drake auch noch anderen. Alle paar Tage packt sie Seife und einen Schlauch in ihren Beutel, geht mit kleinen, schnellen Schnitten zu einer Adresse, die ihr zugesteckt wurde und "hilft" Frauen, die ungewollt schwanger wurde.

Mit einer enormen Genauigkeit im Spiel und in den atmosphärischen Details protokolliert Mike Leigh (Naked) in seinem anrührenden Biennale-Sieger eine ganz einfache Frau und die sozialen Bedingungen, die sie zu einer verurteilten "Engelmacherin" werden lassen.

Die Vergewaltigung ist Männersache, um die Folgen kümmern sich die Frauen verzweifelt allein. Leigh zeigt, wie reiche Frauen nach einem peinlichen psychologischen Verhör in klinischer Umgebung mit "der Sache" fertig werden. Bei allen, die sich dies nicht leisten können, werden Adressen und Namen rund gereicht. Die nüchterne Terminabsprache übernimmt eine Freundin Veras, die allerdings auch Geld kassiert, ohne dass Vera davon weiß. Sie macht die Abtreibungen, "um den Frauen zu helfen". Und so geht sie auch mit ihren Patientinnen um, beruhigt sie, begegnet der barren Angst mit mütterlicher Gelassenheit. Die Gründe sind so vielfältig wie die Lebensumstände der Frauen: Da ist die siebenfache Mutter, die vergewaltigte Susan und die reiche Lady, die es regelmäßig machen lässt.

Auch als eine junge Frau fast an den Folgen der Abtreibung stirbt und die Polizei Vera verhaftet, denkt die völlig verstörte Frau vor allem an ihre Familie, die im Nebenraum wartet und Weihnachten feiern will. Die sehr korrekten Polizisten mit weiblicher Begleitung verurteilen nicht. Erst im Gericht wird klar, dass an der kleinen Lady ein brutales Exempel statuiert werden soll. Dabei verliert Leigh nie den sozialen Aspekt aus den Augen: Ein Schwenk von der Putzfrau auf die Herrin macht Klassenunterschiede deutlich, der Kontrast zwischen den Wohnungen ist in hell und dunkel gezeichnet. Alle Männer haben an all den Kriegen Englands zu tragen.

Mike Leigh vertraut bei seinen intensiven Filmen auf monatelange Vorbereitung mit seinen exzellenten Schauspielern. Wie für's Theater proben sie ihre Rollen immer wieder, spielen die Szenen durch und variieren, bevor überhaupt eine Szene gedreht wird. Das Ergebnis ist ungeheuer dicht, auch akribische Ausstattung, Kostüme und die stimmungsvolle Kameraarbeit von Dick Pope tragen zur Wirkung bei, die "Vera Drake" zum klaren Sieger des letzten Filmfestivals von Venedig machte. Neben dem Goldenen Löwen gab es auch den Darstellerpreis für Imelda Staunton, die Vera Drake in ihrer herzergreifenden Einfachheit aufleben lässt.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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