Sein Bruder

Frankreich 2002 (Son frère) Regie Patrice Chéreau mit Bruno Todeschini, Eric Caravaca, Maurice Garrel 92 Min. FSK ab 12

Krankheiten sind ein kniffliges Thema im Film. Im Prinzip will davon ja niemand etwas wissen, aber es ist auch unschlagbar tragisch, wenn die unheilbare Krankheit die Love Story am Ende auseinander reißt. Ein schmaler Grat, wie auch die schreckliche geniale Krankenhaus-Geschichte "Wit" mit Emma Thompson bewies - sie kam niemals ins Kino. Die "Eierdiebe" werden am Ende des Monats zum totlachen sein und Patrice Chéreau, der französische Meister vieler Tonlagen, fasziniert in "Sein Bruder" mit unerhörten Beziehungen.

Thomas (Bruno Todeschini) hat seinen jüngeren Bruder Luc (Eric Caravaca) immer auf Distanz gehalten, seit sie erwachsen wurden. Jetzt bittet er Luc zu sich, weil er unter einer unerklärlichen Blutkrankheit leidet und nur noch Wochen zu leben hat. Luc sträubt sich anfangs, Nähe zuzulassen. Spannungen zwischen beiden brechen aus, werden herausgeschrieen, aber der Tod lässt nicht viel Raum und so begleitet Luc den sich rasch verändernden Bruder im Hospital und später im Strandhaus der Familie bis zum Ende. Es sind schockierende und radikale, abschreckende und rührende Erfahrungen, die "Sein Bruder" vermittelt. Chéreau spricht von einem Film "über Körper, über die Degradierung eines Körpers, die Transformation von Gesichtern. Ein Film über Körper im Raum. Ein Film über Stille und Geschwätzigkeit." Seine nahe, aber unaufdringliche Handkamera ist "auf der Suche nach Haut, Falten, Flaum und Schweiß. Blaue Flecken, Blutgeschwülste, Rötungen, Schultern, die entkleidet und sichtbar werden, rutschende Hosen, Socken und Strumpfhosen, die man auszieht, die Spuren, die sie hinterlassen. Ins Violette spielende Narben, Eiterungen, Flecken auf den Laken und in den Betten."

Patrice Chéreau könnte sich längst mit zahlreichen grandiosen und epochalen Inszenierungen auf Film und Bühne zur Ruhe setzen: Der 1944 geborene Regisseur und Gelegenheits-Schauspieler, der mit einer einnehmenden Freundlichkeit im Interview Deutsch spricht, hat mit seinem Ring in Bayreuth (Dirigent Pierre Boulez) ebenso Geschichte geschrieben wie mit dem grausamen Historien-Opus "Die Bartholomäusnacht". Seit dem Kinodebüt "Das Fleisch der Orchidee" (mit Charlotte Rampling) im Jahr 1975 sorgten seine Filme immer wieder für Aufsehen, waren Skandale (Der verführte Mann, 1983), Sensationen in Cannes (Die Bartholomäusnacht , 1994) oder gewannen Festivalpreise wie den Goldenen Bären in Berlin 2001 für "Intimacy".

Auch "Sein Bruder" nach einem Roman von Philippe Besson lief im Berliner Wettbewerb, gewann 2003 den Regiepreis. Es hätte ebenso gut wieder der Hauptpreis sein können - Chéreaus Filme spielen konkurrenzlos. In der intimen Nähe zu den Menschen und ihren Gefühlen gleichen sich der englische "Intimacy" und sein französischer "Bruder". Während es in London um die Unbedingtheit der Leidenschaft ging, gibt nun die Vergänglichkeit den unerbittlichen Maßstab. Ansonsten sind beide Einblicke zu einzigartig, um irgendwie eingeordnet zu werden. Man muss sich ihnen ergeben.

http://www.concorde-film.de


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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