Schildkröten können fliegen

Iran, Iraq 2004 (Lakposhta ham parvaz Mikonand) Regie: Bahman Ghobadi mit Avaz Latif, Soran Ebrahim, Saddam Hossein Feysal, Hiresh Feysal Rahman, Abdol Rahman Karim, Ajil Zibari 98 Min.

Ein bitteres Märchen aus mehr als 1000 dunklen Kriegsnächten: Die Kinder sind an der Macht in der Flüchtlingsstadt im kurdischen Norden Iraks. Während alle Ordnungen in den Kriegswirren aufgelöst sind, suchen sie in organisierten Gruppen nach Minen, um diese für ein paar Münzen auf dem Markt zu verkaufen. Der Anführer ist ein kleiner Großkotz namens Satellit, denn er kann mitten in dem Wald aus TV-Antennen Satelliten-Schüsseln montieren. Und über deren hunderte himmlischer Kanäle können die Alten der Siedlung, nein, pfui, nicht die nackten Tatsachen des Westens, sondern die Fakten und Nachrichten der USA sehen. Verstehen vermag die fremden Sprachen niemand, aber man glaubt Satellit, wenn er von der baldigen Befreiung durch Amerika übersetzt.

Regisseur und Autor Bahman Ghobadi wurde 1969 im Iran geboren. Nachdem er in Samira Makhmalbafs "Schwarze Tafeln" einen der wandernden Lehrer spielte, realisierte er die erschütternde Kinder- und Schmugglergeschichte "Zeit der trunkenen Pferde". Das Road-Movie "Verloren im Irak" zeigte zwar Vater und Söhne in eher humoristischen Situationen, doch das Ziel der Geschichte ist eine Tragik, die ihren Ursprung in den Giftgas-Angriffen der irakischen Armee auf kurdische Dörfer hat.

Und auch das Flüchtlingselend in "Schildkröten können fliegen" erzählt in dunklen Rückblenden von Mord, Vergewaltigung und Vertreibung durch irakische Soldaten. Diese Gewalt bracht Hengov, dessen Schwester Agrin und deren Baby in die Siedlung Satellits. Hengov hat beide Arme verloren, wird trotzdem zuerst von Satellit angefeindet. Doch als der sich in die melancholische Agrin verliebt, werden die Neuzugänge bevorzugt. Wobei der gerissene Organisator direkt von Hengovs Gabe profitiert, in die Zukunft zu sehen.

Satellit wird seine coole Härte aufgeben und es wird ihm nicht bekommen, doch das emotionale Zentrum des Films liegt bei den drei geschundenen Neuankömmlingen. Während die Gruppe der Jungs zuerst mit der alltäglichen Lässigkeit beeindruckt, mit der sie wortwörtlich auf dem Minenfeldern herumspazieren und auch der Film angesichts dieses Wahnsinns nur in einen trockenen, schwarzen Humor verfallen kann, zeigt vor allem Agrin den Schrecken in einer poetischen und darin um so ergreifenderen Form. Mit Albträumen und Visionen erhebt sich aus dem realistischen Schlamm des Elendslagers ein Drama, das noch stärker erschüttert. So zeigt der geniale Film zwei Menschschläge und zwei Kunstformen - Hoffnung gibt es allerdings nirgends.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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