Die Stadt der verlorenen Kinder

Fr/SP/BRD 1995 (La cite des enfants perdus) Regie Jean Pierre Jeunet, Marc Caro, 112 Min.

Was ist los mit dieser Welt: Selbst die kleinen Kinder haben nur Alpträume, überall saugen fürchterliche Kopfhelme an den Gedanken (Batman Forever), der Kampf in den Träumen entscheidet über das Leben und Wachen (Nightmare on Elmstreet).

Das Team Jeunet/Caro zauberte um diese Horrorvisionen wieder "Delicatessen" für's Auge: Düster braune Hafengegenden verschlucken jeder fröhliche Stimmung und kleine Kinder. Zyklopen mit elektronischen Sinnesorganen verkaufen die äußerlich und innerlich zerlumpten Wesen (Schmuddel-Kostüme von Gaultier, die aussehen wie frisch aus dem Altkleider-Container geklaut!) gegen neue Sehorgane. Ein wahnsinniger Forscher namens Krank stiehlt den Kindern ihre Träume, doch er erntet selbst bei den kleinsten einen Alp nach dem anderen. Nur das im Aquarium schwabbelnde Gehirn Irvin mit antiquiert technischen Augen und Ohren (ein gefundenes Fressen für Medientheoretiker wie Kittler) kämpft mit der Hilfe des ein-samen Seemanns One und der kleinen, reifen Kindfrau Miette gegen den Traum- und Kinderdiebstahl.

Trotz der unnachahmlichen Umsetzung, der einzigartigen Jeunet/Carot-Welt und einer unglaublichen Ideenflut droht die Nummer-Revue lange seelenlos zu bleiben. Bis ins letzte Drittel hinein erdrückt die überflutende Tricktechnik oft poetische Ideen, die "Delicatessen" so wunderbar machten. Ansonsten ein unvergleichliches, einzigartiges Filmwerk, in dem es viel zu sehen zum Sehen und Hören gibt: Die Zyklopen haben ein künstliches Auge und auch das Ohr wird technisch versorgt. Für ein neues Kunstauge verkaufen sie sechs Kinder an Krank. Die Träume der Kinder bezahlen also den schwachen und gestörten Blick auf eine düstere Welt, die bei den Kleinen nur Alpträume erzeugt. (Die glücklicheren Kindern werden in einer Art Gauner-Kapitalismus nur als kleine Diebe ausgebeutet.) Die Sehsüchte steigern sich in einer Stadt, in der nur die Kinder nicht ganz verloren scheinen, zu selbstmörderischen Perversionen: Ein Zyklop erlaubt dem anderen per Kabelverbindung die Live-Übertragung des eigenen Todes. Das verwachsene und verblüffend synchronisierte Zwillingspaar, Krake genannt, würgt sich letztendlich gegenseitig - ein besonders raffinierter Selbstmord. Sollen wir vielleicht erkennen, daß sich eine sehr düstere Gesellschaft sehenden Auges selbst umbringt? Die Zeit wird zeigen, ob dieser Gedankenschatz wie beim "Blade Runner" zitierfähiges Allgemeingut bleibt, ob im Film genug Substanz für solche Aussagen steckt.

Die andere große Gedankenlinie des Films fragt, "Bin ich das Original oder eine Kopie?" Nicht nur die geklonten Brüder Kranks, auch die Zyklopen und natürlich die siamesischen Zwillinge suchen Individualität gegen die offensichtliche Gleichheit. Der superstarke, großherzige Retter One hat die Einzigartigkeit schon im Namen. Ansonsten haben nur die Kinder eigenständiges Wesen, allen voran Miette. Ihr Altern im Finale zeigt vielleicht einen Ausweg für die deprimierende Gleichheit aller: Die Zukunft gibt uns die Chance auf eigene Entwicklung.

Der filmische Höhepunkt ist nicht das Finale sondern ein "Lauf der Dinge", ausgelöst von einer Träne: Über haufenweise Un- und Zufälle führt Miettes in einem Spinnennetz aufklingende Träne zu gewaltigen Einschnitten. Dazu gäbe es neben Killer-Flöhen noch unzählige Ideen zu referieren. Und die Anhäufung von rettenden und mordenden Vögeln. Und was will uns Irvins Migräne sagen, nur selten von Krank mit einem Aspirin im Aquarium besänftigt? Vor allem aber ist "Die Stadt der verlorenen Kinder" wohl einer der wenigen Filme, die mit einem kräftigen Rülpser enden.


Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik

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