Der Polygraph

Kan/Fr/BRD 1996 (Le polygraphe) Regie Robert Lepage, mit MarieBrassard, Peter Stormare, Patrick Goyette u.a., 92 Min.

Wahrheit ist eine russische Matruska. Jede der Frauenfiguren imfolkloristischer Bemalung bringt, wenn man sie öffnet, nurwieder eine kleinere Kopie ihrerselbst hervor. Wie im guten Filmentdeckt sich ein immer neues Rätsel je tiefer man ins Innerevordringt. "Le Confessionnal" von Robert Lepage war so ein Film. "DerPolygraph", das neue Kinowerk des kanadischen Bühnenregisseurs,betont diese Suche nach Wahrheit explizit.

Der kellnernde Politologe François gehört nach demgrausamen Mord an seiner Freundin Marie-Claire zu denVerdächtigen. Die Polizei schließt ihn an den Polygraphen,einen Lügendetektor an. Doch die Ergebnisse derentmündigenden Prozedur, die in Tinte verzeichnetenAusschläge vieler feiner Fühler, liefern keine eindeutigenErgebnisse. Wütend schreit François: "Der Polygraphlügt, nicht ich." Ist das Kino, der Cinematograph, dereigentliche Polygraph?

Circa ein Jahr später will die Regisseurin Judith einen Filmüber den Mord an Marie-Claire drehen. Sie wählt dieunsichere Theaterschauspielerin Lucie aus und schon bei Casting imStudio fällt Judiths Spiegelbild mit dem Gesicht Lucieszusammen. (Siehe "Die Bleierne Zeit") Keiner der Beteiligtenweiß jedoch, daß Lucie ausgerechnet die vertrauteNachbarin von François ist.

Dies ist nur die erste Verbindung in einem komplexen Geflecht vonBeziehungen. Bald wird Lepage zwischen den Vorträgen desPolitologen François und einer von Lucies neuem FreundChristof durchgeführten Autopsie umherschneiden, die Wunde derLeiche mit dem zerteilten Berlin vergleichen.

Spannung gewinnt "Der Polygraph" nicht nur aus der Frage "Wer warder Mörder?" Die dreifach verschachtelte Handlung erzeugt einenganz eigenen Reiz: Denn nicht nur soll die Schauspielerin Lucie imFilm die Regisseurin Judith spielen, Regisseur Robert Lepageentwickelt den Stoff selbst, nachdem er den Psychoterror einersolchen Untersuchung miterleben mußte.

Formal ist "Der Polygraph" ebenso exquisit gestaltet wie "LeConfessionnal". Elegante, kunstvolle Schwenks verbinden Raum undZeit. Die Perspektiven wechseln und bieten zusammen mitungewöhnlichen Bildkompositionen immer wieder neuen Augenkitzel.Witzige Zeitraffer lassen die Umgebung quirlig um Lucie undFrançois herumeilen, die ihren Dialog in vertrauterGeschwindigkeit führen. Entgegengesetzt verharrt Françoisstarr in einem schockartigen Zustand und alles um ihn wandelt sich inSekunden.

Zeit spielt eine wichtige Rolle. Die Spanne von der Errichtung biszu Öffnung der Berliner Mauer ist nicht nur Thema derUntersuchungen von François. Der politische Wandel im Ostenbegleitet die Geschichte aus Radio und TV.

Das komplexe Werk Lepages läßt nach dem ersten Sehenviele Fragen zurück: Trägt auch Christof eine Leiche inseinem Herzen herum? Die Figuren spielen nicht nur eine Rolle, siehaben Parts in allen Segmenten der Geschichte, wie die drei- bisvierfachen Reflektionen des Badezimmerspiegels nach der ersten Nachtvon Lucie und Christof zeigen.

Die total synchronisierte Version des Films nimmt ihm leiderwichtige Momente: Die ostdeutsche Herkunft Christofs ist erst bei derausdrücklichen Erklärung, nicht vorher an der Spracheerkennbar. Sicher nicht ohne Bedeutung springt die Handlung zwischendem französischsprachigen Quebec und dem englischen Montreal,auch dies in der Synchro nivelliert.

Die russische Matruska (???) dient Lepage als sehr schöneMetapher für die ineinander verschachtelten Schichten, die nieEINE Wahrheit ergeben. Nur am Ende des Films kommen die Ebenen trotzvieler, vielfältiger Verbindungen nicht zusammen. Für michhatten sie keinen inneren Bezug, die Verlorenheit François'als Verdächtiger im Mord an seiner abweisenden Freundin und dieZerrissenheit des Ostdeutschen Christof zwischen DDR-Vergangenheitund schemenhafter Gegenwart. Der Epilog von Geheimnis,Versöhnung und Vertrauen lief ins Leere wie dieschicksalsschwere Stimmung des gesamten Films.

Die reizvoll komplexe Gestaltung findet keinen Abschluß unddie einzelnen Szenen sind nicht durchgehend so stark, daß manvon einem gelungenen Film sprechen könnte.


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

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