Oliver Twist
Tschechien 2005 (Oliver Twist) Regie: Roman Polanski mit Barney Clark, Ben Kingsley, Jamie Foreman 130 Min. FSK ab 12 Jahre

Dickens ohne "Twist"

"Ganz gut" kann ein Abstieg bedeuten, wenn es vorher "grandios" hieß. Nach seinem überragenden und persönlichen Meisterwerk "Der Pianist", der Herzen und Preise eroberte, realisierte Roman Polanski nun eine anständige, ansehnliche Dickens-Verfilmung: "Oliver Twist". Nicht mehr aber auch nicht weniger.

Er stolpert in eine Farce, eine grausame: Der Waise Oliver Twist (Barney Clark) landet in einem Arbeitshaus. Das verschüchterte Kindergesicht sieht hinauf zu Fratzen im Anzug, die ihn geringschätzend begutachten. Danach geht es zum Arbeitsdienst, der vor zwei Jahrhunderten von den Gemeinden betrieben wurde, um hilflose Kinder so richtig ins Elend zu stürzen. Die kleinen Sklaven können vor Hunger selbst nicht schlafen, während sich die als Karikaturen gefilmten Ausbeuter den Wanst füllen.

Olivers offizielle Ausbeutung für britischen Kapitalismus und Krieg endet mit der unverschämten Bitte: "Please Sir, I want some more!" Könnte ich etwas mehr haben? Das schreit nach der Todesstrafe, doch lohnender ist der Verkauf. Für ein paar Pfund wird der Waise an einen Sargbauer gegeben, als er dort geprügelt wird, macht er sich in einem tagelangen Marsch auf nach London, um dort direkt in die Fänge einer Diebesbande zu geraten. Unter den Fittichen des seltsam liebvollen und sehr skurrilen Schurken Fagin (Ben Kingsley) kann sich Oliver erstmals zu Hause fühlen, allerdings in einem moralisch äußerst zweifelhaften Umfeld.

Doch das Schicksal hat auch einige positive Überraschungen für den bescheidenen, äußerst freundlichen Jungen parat. Beim ersten Diebeszug gerät der Jungen dann gleich in die Fänge einer grausam albernen Justiz, wird aber durch den aufopfernd humanen Mr. Brownlow (Edward Hardwicke) gerettet, der seinen wohlbetuchten Glauben in das Gute im Menschen an Oliver beweisen will. Doch die Bande um Fagin entführt den Jungen und es wird noch einige tragische Ereignisse geben, bis er einem behüteten und reich ausgestatteten Leben entgegenblicken darf.

Polanski inszenierte den bekannten Roman von Charles Dickens aus dem Jahre 1838 als richtig schön altmodische Geschichte, mit Verrätern, die einfach verraten, Gaunern, die einfach nur betrüben. Gradlinig, ohne "Twist", ohne Überraschung oder auffällige Interpretation. Der gleiche sorgfältige Realismus, der beim "Pianisten" die Grundlage für einen unerhörten, erschütternden Leidensweg durch Holocaust und Krieg bildete, bebildert hier einen Literaturklassiker. Darin ist alles überzeichnet, karikiert, nur das hilflose Wesen im Zentrum erleidet alles mit unerschütterlich gutem Wesen.

Man verbreitet, Polanski verarbeite in seiner ersten Regiearbeit nach dem Triumph mit "Der Pianist" "eigene Erfahrungen als Waise auf den Straßen des Ghettos von Warschau". Das mag man glauben oder nicht, Anhaltspunkte im Film sind keine zu erkennen. Es ist ein Dickens und kein Polanski, da will die Marketing-Abteilung vielleicht etwas den "Pianisten" nachklingen lassen.

Oliver Twist, der Junge mit dem Engelsgesicht, wird eindrucksvoll gespielt von Barney Clark. Obwohl es immer besonders schwierig ist Kinder zu inszenieren, verdient sich jedoch vor allen Ben Kingsley viel Begeisterung. Sein Fagin ist eine wirklich interessante Figur, mit vielen faszinierenden Schattierungen des Verderbten, Düsteren.

Eine düstere Kindergeschichte, die sich zur Weihnachtszeit nett anschauen lässt, weil heute ja alles nicht mehr so schlimm ist. Nirgendwo mehr werden Kinder so schlecht behandelt. Außer in Indien, Thailand, China, Brasilien, ... Aber sie müssen ja nur unsere Hemden und Schuhe nähen, bis sie umfallen ...


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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