Kids

Von Günter H. Jekubzik

Als The Who in den frühen Siebzigern "The Kids are allright" sangen, war die Welt der Kids zwar nicht in Ordnung, aber die gegnerische Front aus verknöcherten Erwachsenen war klar. Martin Scorsese zeigte seine jungen Männer Robert de Niro und Harvey Keitel, wie sie im "Hexenkessel" beim eitel-dummen Hahnenkampf aufeinander losgehen. Die heutigen New Yorker "Kids" aus Larry Clarks heftig schockierendem Film sind nicht älter als 15 Jahre und schon unmoralischer als die brutalsten Killer der Filmgeschichte. Blind morden sie einander mit dem HIV-Virus; kleine, verlorene Bestien in Manhattan. Der Hexenkessel brodelt hier unter der Haut, zur Explosion braucht es keine Waffen. Die Kids bringen sich durch Küsse um, ficken sich zu Tode - nur ohne das Pathos dramatischer Vorbilder. Es ist ihr Alltag.Die "Kids" sind so jung wie noch nie miteinander im Bett. Unheimlich früh greift auch schon der Tod nach ihnen: Jennie erfährt, daß sie HIV-Positiv ist, den Aids-Virus hat. Im Gegensatz zu all den Freundinnen, mit denen sie laut und offen ihre sexuellen Erfahrungen austauscht (Sperma zwischen den Zähnen!), hat sie nur einmal mal mit jemandem geschlafen - eine zynische Trefferquote.Telly, das schlacksige Jüngelchen um die 15, begegnet uns gleich zu Beginn mit einer verführerischen Liebeserklärung - unterbrochen von schmatzend tiefen Zungenküssen. Erst nachdem er das junge Mädchen überredet und verführt hat, erfahren wir, daß es Tellys Hobby ist, mit Jungfrauen zu schlafen. Heute kann er vielleicht sogar zwei rumkriegen. Don Juan war ein Waisenknabe gegen diesen unflätig protzenden Bubby.Die "Kids" in New York unterscheiden zwischen dem "Making Love" für Softies, einem gelangweilten "Having Sex" und dem absolut Größten: "To Fuck somebody", jemanden bumsen. Nun interessiert diese "Kids" nicht nur Sex: Sie saufen auch, rauchen Dope, pöbeln Schwule an und prügeln gemeinsam vorlaute Eindringlinge zu Tode.Der als Photograph bekannte Regisseur Larry Clark inszenierte diese Momente hautnah, das Lebensgewühl wirkt so authentisch, daß der lebensnahe Handlungsfaden gar nicht mehr interessiert. Seine freien Handkamera begleitet die Kids einen Tag und eine Nacht lang bis in den von Pillen vernebelten Morgen. Dabei geht es - auf natürlichste Weise spannend - um ein Leben, wenn Jennie versucht, Telly zu finden, bevor dieser seine nächste Wegwerfnummer infiziert. Im Rausch aus Schmerz, Alkohol und Pillen durchschwebt sie die Parks, Clubs und Party der Clique. Wie eine Jean Seberg, eine bekiffte Heilige.Formal bleiben Telly und Jennie nach dem gemeinsamen Sex durch die Montage miteinander verschlungen. Sie zeigt, daß es mit einer Nacht nicht vorbei ist. Der Senior Larry Clark übernahm nicht die Perspektive eines alten Moralisten. Bei all den unglaublichen Taten behalten die "Kids" ihr Eigenständigkeit, werden nicht für irgendwelche Verhaltensraster bloßgestellt. Das macht die Ehrlichkeit der Inszenierung aus. Clark traf den High School-Schüler Harmony Korine, als er und sein Sohn das Skateboard-Fahren übten. Harmony schrieb bald ein Script, das auch die Produzenten (unter anderen Gus van Sant) begeisterte. Mit der schwachen deutschen Synchronisation geht allerdings das verloren, was ebenso schwer zu inszenieren wie auszusprechen ist: Authentizität."The Kids aren't allright," titelte die New York Times. Während sich die Jugendgangs in South Central Los Angeles gegenseitig abknallen, die Vorstädte Frankreichs zeitweise Krisengebieten ähneln, zeigt "Kids" eine andere hoffnungslose Jugend. Ein umstrittener, provozierender und wichtiger Film, der Geschichte machen wird. In den USA wurde das ehrliche Stück Lebensgefühl nicht für die Altersgruppe freigegeben, die er zeigt. Auf Festivals und in Redaktionen erzeugen die "Kids" erbitterte Fronten.

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KIDS kurz AVZ 11.11.95

Erstaufführung, USA 1994, Regie Larry Clark, 93 Min.Sie sind schnell auf dem Skateboard und schnell im Bett. Mit dem Rucksack ziehen sie durch New York und machen sich im Rausch aus Alkohol, anderen Drogen und Aids fertig. Diese "Kids" könnten auch "Pigs" heißen, doch Clark beobachtet sie in seinem schockierenden Meisterwerk wertungslos nahe.


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