Gabrielle
Fr, I, BRD 2005 (Gabrielle) Regie: Patrice Chéreau mit Isabelle Huppert, Pascal Greggory, Claudia Coli 90 Min. FSK ab 12
Ein Kunstwerk, atemberaubend. Und mittendrin ein unerhörtes Ereignis: Gabrielle (Isabelle Huppert) verlässt ihren Mann Jean Hervey (Pascal Greggory), um wenige Stunden später wieder zurückzukehren. Jean hatte gerade Zeit genug, den Abschiedsbrief zu lesen. Analytisch reflektiert der Verletzte im Off-Kommentar das Vorher und Nachher. Am Donnerstag davor hielten die Herveys noch ihren belebten und beliebten Salon: Spitze Konventionen, Klatsch, Gerede, Lästern mit irritierender E-Musik, unruhiger Kamera, Zooms, Schwenks, rasche Schnitte. Dann am Donnerstag danach der Eklat: Vor den Gästen attackiert Jean seine Frau und deren Liebhaber.
Bühnen- und Film-Regisseur Patrice Chéreau ist ein Meister, ein Kenner der Musik. Noch immer muss man seinen Bayreuth-Ring aus den Siebzigern (mit Pierre Boulez) erwähnen. Im Kino verstörte und fesselte er zuletzt mit der ungewöhnlichen wie rührenden Krankengeschichte "Sein Bruder" und dem provokant sexuellen Berlinale-Sieger "Intimacy". Nun fasziniert und erfreut ein erlesener Musikeinsatz ebenso wie die atemberaubende Stille nach dem Brief. "Gabrielle" ist ein Diamant, der in vielen Facetten schillert. Einige werden auch sagen "kalt", doch die nüchterne Betrachtung des Erzählers darf nicht mit den abgründigen Gefühlswelten der Menschen verwechselt werden. Kalt geht Gabrielle mit dem nüchternen Ehe-Arrangement um, liefert regelmäßig den ungeliebten Geschlechtsverkehr. Ein kurzer Gefühlsausbruch, ein Seitensprung zerstört komplett die Sicherheit des Mannes, er fürchtet, das "Prachtexemplar seiner Sammlung" zu verlieren. Ausnahmsweise ist es der Mann, der an emotionaler Kälte zerbricht.
"ER KAM NIE WIEDER ZURÜCK" lautet der letzte Satz. In Großbuchstaben,
denn Chéreau arbeitet bei der Verfilmung von Joseph Conrads Erzählung
"Die Rückkehr" auch expressiv mit der Schrift, ähnlich wie es Alexander
Kluge in seinen TV-Features macht. Der Text des Abschiedsbriefes füllt
in eigenwilliger Typografie den ganzen Bildschirm. Wie im Stummfilm. Dann
die nicht direkt verständlichen Wechsel von Farbe zu Schwarzweiß.
Aber vor allem sorgfältigste Bildkompositionen und das Spiel von Isabelle
Huppert ("Die Klavierspielerin") und Pascal Greggory, die sich in gnadenloser
Offenheit zerfleischen. Das Kunststück "Gabrielle" ist ein zeitloses,
emotionales Drama und trotzdem eine sehr genaue Betrachtung der Zeitumstände
(Handlungsjahr: 1912), etwa des emsigen Treibens einer sehr zahlreichen Dienerschaft.
Und dann immer wieder das messerscharfe Sezieren eines Seitensprungs und
seiner Bedingungen bei einem Paar, das "aus Feigheit, aus emotionaler Bequemlichkeit
zusammen lebt."
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