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Locarno 2001 - Special

von GünterH. Jekubzik undOliverSchiffers




Locarno 2001

Sternenhimmel, Lago Maggiore, Alpenblick, Piazza Grande - Betrachtungen zu Locarno schweifen leicht ins Touristische ab. Die stimmungsvollen Filmabende auf der Piazza bleiben das Aushängeschild des Schweizer Filmfestivals. Deshalb wurde 2001 nicht nur der Auftritt der neuen Festivalleiterin Irene Bignardi diskutiert, sondern immer wieder auch das Wetter.

Sterne der Piazza

Das Schweizer A-Festival - das wieder als das viertgrößte Europas gesehen werden will - lebt vom Luxus der atmosphärisch einmaligen Piazza-Abende unter freiem Himmel. Wie bei der diesjährigen Sternstunde der Piazza, dem Filmabend mit "Lagaan - Once upon a time in India". Der Gewinner des Publikumspreises bereitete mit fast vier Stunden Bollywood, bunten Kostümen, gnadenlosen Klischees und kaum fassbar künstlichen Musicaleinlagen ein freud- und lustvolles Kinoereignis. Der Funke sprang über: Szenenapplaus nach den Liedern, Lachen und Fiebern mit den armen indischen Bauern, die 1893 während einer Dürre gegen die herrischen Briten Kricket spielen. Einsatz ist die unbezahlbare Erntesteuer - "Lagaan" . Hier wurde auf der Piazza ein Film nicht nur betrachtet, er schlug ein, verband Tausende im Rausch eines Kinofestes.

"Lagaan", dies ungewöhnliche Stück nationales Befreiungskino von Ashutosh Gowariker zeichnet den historischen Hintergrund etwas genauer als in den unzähligen indischen Filmmusicals üblich - und lässt uns trotzdem die Freude an völlig verzeichneten despotischen Briten. Der indische Star Aamir Khan übernahm mit der Hauptrolle des jungen Helden auch das finanzielle Risiko dieser außerordentlich aufwendigen Produktion.

Mit "Lagaan" blitzte das weltoffene Locarno auf, wie man es unter David Streiff, dem Festivalleiter von 1982 bis 1991, lieben lernen konnte: Vielseitig interessiert und sich nicht zu schade, einen guten Film zu zeigen, der schon in Cannes gefeiert wurde. So bildete Baz Luhrmanns "Moulin Rouge" 2001 den rauschenden Abschluss. Gefeiert wurde auf der Piazza recht viel: Der Ehrenleopard für Chen Kaige mit "Die Weissagung", ein spezieller Ehrenleopard für 50 Jahre "Cahier du Cinema" mit "Miller's Crossing" der Brüder Coen und noch so ein Edeltierchen für 20 Jahre Sundance Institut mit "The Deep End", einem freien Remake von Ophüls' "The Reckless Moment" aus dem Jahre 1949. Tilda Swinton will in letzterem Film von Scott McCehee und David Siegel als weltfremdes Muttertier ihren schwulen Sohn vor einem Mordverdacht schützen. Die Schauspielerin ist allerdings der einzige Pluspunkt in dem langatmigen Psychostück.

Bemerkenswerter als die von viel Geld hochgespielten Hollywood-Höhepunkte "Planet der Affen", "The Score" oder "Bridget Jones Diary" war die Mischung aus Horror und Historie "El Espinazo del Diablo" des Mexikaners Guillermo del Toro. Während des spanischen Bürgerkriegs wird der zwölfjährige Carlo in einem abgelegenen Waisenhaus "abgeliefert". Mehr als die Schikanen der anderen Knaben quälen ihn die Visionen eines toten Jungen. Während das äußere politische Zeitgeschehen zunehmend an Bedeutung verliert, wächst der interne Terror der Anstalt, der sich letztendlich wieder als Abbild der Diktatur sehen lässt. Ein kleiner Junge droht vor grandios existenzialistischer Landschaft in großen Gefühlen unterzugehen. Nach seinem Erstling "Cronos" (1993) und dem verunglückten US-Horror "Mimic" (1997) wandte Guillermo del Toro sein Genre-Können an einem Sujet außerhalb der Horror-Ecke an. Gerade hat er den zweiten "Blade" abgedreht.

Die starke Präsenz deutscher Filme auf dem Festival war auf der Piazza mit dem quälend schwachen "Mostly Martha" (dt. Titel "Drei Sterne") vertreten. Sandra Nettelbeck gewann 1997 mit "Mamma Mia" den Ophüls-Preis. Jetzt kam sie auf der Piazza Grande ganz groß raus - und blieb unangenehm bescheiden in Bild und Sujet, welches sich für den ZDF-Sonnabend anbiederte: Eine freudlose Fachidiotin in Sachen Gaumenfreuden (Martina Gedeck) findet durch die Tochter der verunglückten Schwester und einen italienischen (!) Kochkollegen (Sergio Castellitto) zum farbigen Leben zurück. Dies abgestandene, altbackene und abgeschmackte Geschichtchen war eine schlaffe Ohrfeige für das aufgewecktes Publikum. Da hätte sich der Himmel verdunkeln und die Sterne verschlucken sollen. Leider kam der große Regen an besseren Kinoabenden.

Auch Peter Bogdanvichs "The Cat's Meow" ging den Bach runter: Eine prominente Bootspartie des Milliardärs Hearst im November 1924 kann weder durch Anwesenheit von Figuren wie Chaplin, noch durch die dekadente Stimmung oder das Rätsel um einen Toten irgendwie interessieren. Allein die Entstehungsgeschichte dieser historischen Anekdote als Teil des ersten Drehbuchentwurfs zu "Citizen Kane" ist bemerkenswert.

Preisregen

Nach einem erfreulich anspruchsvollen Wettbewerb sorgte die Entscheidung für Überraschung, Buhrufe und heftigen Streit in der Jury unter Debra Winger. Der "Goldene Leopard" - dotiert mit 40.000 Schweizer Franken - wurde an den italienischen Film "Alla rivoluzione sulla due cavalli" verliehen. "Mit der Ente zur Revolution" ließe sich der Titel des 2CV-Roadmovies von Maurizio Sciarra übersetzen. Er erzählt von drei Franzosen, die 1974 mit dem legendären Citroen nach Portugal reisen, wo die Nelkenrevolution gerade die Diktatur beendete.

Allgemeine Anerkennung hingegen gab es schon während des Festivals für den iranischen Beitrag "Delbaran" von Abolfazl Jalili ("Dance of Dust", "Tales of Kish"). Die teilweise fast dokumentarischen Erlebnisse eines afghanischen Flüchtlingsjungen, der in einer Durchgangherberge Unterschlupf und Arbeit findet, faszinierten typisch iranisch mit der einfachen und trotzdem packenden Geschichte. "Delbaran" erhielt den "Spezialpreis der Jury" (10.000 Sfr) und steht für eine Tendenz im Wettbewerbsprogramm: Als ein roter Faden zog sich das Fremdseins durch die Filme, nicht nur die Entfremdung von der Heimat, auch die im eigenen Lande. Nabelschauen gab es dagegen kaum.

Einen "Silbernen Leoparden" (20.000 SFr) erhielt Peter Sehr ("Kaspar Hauser", "Obsession") für den Wettbewerbsfilm "Love the hard way". Seine heftige Liebesgeschichte zwischen einer naiven Bio-Studentin und dem sich herzlos gebenden Gauner Jack hat in New Yorker Kulisse durchaus frische Momente erzeugen.

In der Sektion "Cinéastes du présent" fiel der österreichische "Mein Stern" auf. Valeska Griesebach zeigt in dem einstündigen Film unsichere Jugendliche bei ungelenken Flirts, beim ersten Abtasten. Nicole und Christopher erscheinen ihre frühen Versuch im ewigen Liebesspiel existentiell, nichts anderes zählt. Um möglichst viel Spontaneität der jungen Laiendarsteller einzufangen, hält die Absolventin der Wiener Filmakademie das Geschehen nicht immer im Rahmen, kann aber mit dokumentarischer Nähe fesseln.

Erfreulicherweise blieben bei der 54.Ausgabe unter dem Strich nicht die von mehreren Regenabenden getrübten Zuschauerzahlen - ja, über die Piazza reden, heißt auch immer übers Wetter reden. Das allseits positive Debüt der neuen Festivalleiterin Irene Bignardi überzeugte mit einer adäquaten Programmierung der für Locarno kennmerkenden Piazza-Abende. Sie setzte Akzente, hatte etwa Mut "Final Fantasy", diesen filmhistorischen Meilenstein für die nächsten drei Monate, zur Diskussion auf die Piazza zu stellen. Der Wettbewerb läuft nun nicht mehr dort, was Platz für mehr Substanz schafft. Auf jeden Fall kann man sich im Jahr nach Marco Müller auf die Filme konzentrieren, die Kapriolen der Festivalleitung fielen aus. Die Tageszeitungen bezeichneten Bignardis Locarno als "besonders weiblich", wegen einer fast entmannten Jury und ungewöhnlich vielen Regisseurinnen im Wettbewerb. Um ein letztes Mal die Natur zu bemühen, gelang dem Team von Bignardi auf der Piazza zwischen den schroffen Bergen und dem zauberhaften See ein ausgeglichener Kurs zwischen den Extremen schwer zugänglicher Kinematographien und zu flachem Mainstream. Es blieb eine unspektakuläre Zufriedenheit