Der Nachwuchs des deutschen Films in Locarno

Deutschland erzählt / Heimatgefühle?

Das 50. Internationale Filmfestival von Locarno präsentiertein seiner Reihe "Leoparden von Morgen" vom 6.-16. Augustdiesjährig deutschsprachige Kurzfilme. Leitlinie sollte alsVorbereitung auf den "großen" Wettbewerb von Locarno daserzählerische Moment sein. Von den insgesamt fünfvergebenen Preisen - drei weitere waren für eine parallele ReiheSchweizer Kurzfilme bestimmt - gingen drei an jungeÖsterreicher.

Michael Beltrami - eigentlich selbst Filmemacher - verantwortetenach fünf Jahren zum letzten Male die "Leoparden von Morgen".Von über 800 Vorschlägen wählte er hauptsächlichauf internationalen Festivals 33 deutsche und siebenösterreicher Kurzfilme aus. Das Ergebnis konzentrierte sich aufdie großen Filmhochschulen, die Deutsche Film- undFernsehakademie Berlin (DFFB) mit neun Filmen, die Hochschulefür Film und Fernsehen (HFF) Konrad Wolf in Potsdam (6), die HFFin München und die Filmakademie Baden-Württemberg (je 3),die Zweidrittel der deutschen Schiene füllten. Abweichend vomErzählkino gab es auch in drei Spezialschienen "Avantgardefilm -Österreich 1955-1996". Doch selbst im Programm"Deutschland/Österreich" kam der ungewöhnlichste, imwahrsten Sinne der Kameraführung "schrägste" Film "EineSeekrankheit auf festem Lande" (Regie: Christian Frosch, KristinaKonrad) aus dem Alpenland.

"Deutschland erzählt, Österreich experimentiert!"lautete ein passender Kommentar zur weitgehend einfallslosenDarstellung junger Filme aus Deutschland. Es wurde vor allem das"Junge" vermißt. Neue Ideen, Stile, Erzählweisen, radikaleAnsätze, Mut, Revolution? Die gab es - oft von reifen Autorenentwickelt - nebenan in der Sektion "Cineastes du Present".

Die Begleitworte zur Reihe schilderten zwar die florierendeKurzfilmproduktion in Deutschland, das breite Angebot auf speziellenFestivals, Kurzfilmrollen und den Spätschienen einiger TV-Senderspiegelte sich aber kaum wider. Im Kometenschweif von Emmerich bewegtsich sicher mehr, als in den Seminarräumen der Filmschulen. Ausprogrammatischen Gründen blieben die international erfolgreichenTrickstudios und -filmer (Oscar für "Quest" und dieschwäbischen Zuarbeiter für "Independence Day", SilbernerBär für "Late at Night") ebenso draußen, wieDokumentarisches.

Die Ausnahme "Heimatgefühle" von Frank Müller zeigteMenschen "Zwischen Nordsee und Internet" in der Gartenlaube und imTechno-Schuppen. Ein Fischer erzählte von seiner Freiheit unddem Kampf gegen die ausufernde Industrielandschaft in HamburgAltenwerder. "Heimatgefühle" verbindet Lebensweisenwertungsfrei. Traditionen und stille, schnelle Städte imZeitraffer. Vor allem seine enorm eindrucksvollen Bilder imCinemaScope-Format, die Montagesequenzen und der befremdliche Gesangim Hintergrund tragen zur starken Wirkung des vierzigminütigenFilms bei. Frank Müller (geb. 1966) erhielt für"Heimatgefühle" bereits den Internationalen Filmkritikerpreisdes Filmfestivals von Mannheim.

Ganz klischeehaft drängte sich tatsächlich das Thema"Ordnung" ins Deutschland-Bild: Nach dem Motto rauher, aberraffinierter Bauarbeiter "Was nicht paßt - wird passendgemacht" (Peter Thorwarth) verfuhren viele Gestalten. "DerHausbesorger" (Stephan Wagner) fegt das Laub bis zum Umfallen; diedialektöse, schwarze Komödie "Männer und ihre Hobbies"(Holger Borggrefe) verspottet einen auch außer Dienstordnungsliebenden Polizisten; selbst der vielleicht noch junge (geb.1959), aber mit über 50 experimentellen Filmen zu schwulenThemen reichlich erfahrene Michael Brynntrup listet in "Loverfilm"seine Liebhaber seit Jahrzehnten ordentlich auf. Der Ordnungswillegeht bis zum gleichzeitig futuristischen und altmodischen"Die verlo(h)rene Straße" (Marco Wilms),in dem die "Desinfizierung" eines Viertels ganz deutlich an dieVernichtung eines Ghettos erinnert.

Zum Glück war nicht alles "deutsch": Beteiligungausländischer Studenten charakterisieren ja die Filmhochschulengeradezu. Wobei die Erfahrung im Studienland sehr "deutschlich" miteinfließt wie beim humorigen "Living on the Edge". Luke McBainzeigt den deutschen Osten nach dem Mauerfall als den neuen WildenWesten, als weiten Raum, in dem sich sonderliche Kanadier sehr wohlfühlen.

Michael Beltrami betonte das hohe Produktionsniveau der deutschenArbeiten im Vergleich zu anderen Ländern, die vorgestelltwurden. Gute Filmschulen lieferten formal ausgereifte Filme.Allerdings boten viele der Beiträge nicht mehr als nur eineParabel, Pointe oder Idee für 15 Minuten Film. Wenn man sichfragt, von wem man wohl einen Spielfilm sehen möchte, wird dieAuswahl dünn.

Für "Ku'damm Security" des Berliner Filmstudenten Ed Herzoggab es den Kodak-Preis, Filmmaterial für 5.000 Franken. Miteinem kleinen Team drehte Herzog die Farce eines jungen,selbsternannten Wachmannes, der allein durch sein Auftreten Problemeschafft und schließlich bei einer Wachgesellschaft angestelltwird. Der Preisträger Ed Herzog wollte sich mit der kleinenProduktion "Ku'damm Security" Freiheiten bewahren. Und abgrenzen von"Erstsemestern, die schon mit Kränen und vierzigköpfigenTeams drehen". Herzog arbeitet seit einer Weile mit dem FilmverleiherSenator an einem Spielfilmprojekt, wodurch ein Abschlußfilmfür ihn nicht zwingend auf dem Drehplan steht. AuchFrédéric Moriette studiert an der DFFB. Sein "Tous ceque nous n'aurons pas fait / Ob ich möchte oder nicht"läßt zwei Freunde während eines Spaziergangs imBotanischen Gartens Berlins von schwierigen Beziehungen erzählenund von besseren träumen. Der Kurzfilm erhielt den Preis der NewYork Film Academy, ein Stipendium im Wert von 4.000 Dollar.

Von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig kammit "Pensao Globo" von Matthias Müller der ästhetischavancierteste Film der Reihe. Konstante Doppelungen des Bildesvermitteln die gebrochene Situation eines Todkranken auf seinenExkursionen durch Lissabon. Dafür gab es eine LobendeErwähnung der Jury.

Mit dem Preis der SRG (Schweizerische Radio- undFernsehgesellschaft) im Wert von 6000 Schweizer Franken und dem Preisder Film- und Video-Untertitelung Düsseldorf in Form derUntertitelung eines Kurzfilms wurde "Die Frucht deines Leibes" vonBarbara Albert ausgezeichnet. Die Studentin der Wiener Filmakademiezeigt den fantasiereichen Umgang eines jungen Mädchen mitverklemmten Vorstellungen von Religion und Sexualität. "Flora"von Jessica Hausner - ebenfalls Wiener Filmakademie - stellt mit derSuche einer jungen Frau nach Liebe fast eine Fortsetzung dar. Die anKaurismäki erinnernde Tristesse erhielt den Aatonpreis, dieLeihgabe einer Kamera im Wert von 40.000 Schweizer Franken.

Im nächsten Jahr sollen Kurzfilme aus Großbritannien inLocarno gezeigt werden.

Günter H. Jekubzik


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

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