Cannes Abschluß

Von Günter H. Jekubzik

Cannes. Cannes 2000 ist zu Ende, der französische Küstenort erlebt nach den Filmfestspielen ein paar Tage relative Ruhe, bevor das nächste Festival einzieht. Die 53. Ausgabe bot ein Programm fast gänzlich ohne amerikanische Großproduktionen, ohne italienische, spanische oder deutsche Filme im Wettbewerb - das alles kann Cannes nicht kratzen. Die Festivalstadt hat mit Abstand immer den hochwertigsten und interessantesten Wettbewerb. Dazu trugen viele Asiaten, eigenwillige Filmautoren und unabhängige Produktionen bei. Und das ist auch ein gutes Zeichen für den Reichtum der Filmwelt. Mögen andere Festivalchefs über die harte Konkurrenz klagen, elf Tage Riviera, bei denen nahezu jeder Film ein Gewinn ist, zeigen dass es auch nach hundert Jahren immer noch Neues zu sehen gibt.

Brot und Pomp
"Vatel" stand auf dem Menü für den ersten Abend in Cannes. Ein international gemischtes Gericht mit den schauspielerischen Delikatessen Gerard Depardieu und Uma Thurman. Die einstige naive Schreibunterlage für John Malkovich in "Gefährliche Liebschaften" erwies sich als der erwartete Star mit einem Pailetten-Irgendwas, tief freiem Rücken und majestätischer Schleppe.

Im Film kümmert sich der Koch "Vatel" um die Inszenierungen großartiger Mahlzeiten für Ludwig XIV. sowie um die wechselhaften Launen des Herrschers. Der Pomp, das Auf und Ab der Gespielinnen, das Schauspiel der Dekadenz, die hinterhältigen Ränke, das alles paßte genau zu Cannes. Die NachdemFilm-Feier fand dementsprechend in einer aufwendig nachgebauten Kulisse des Films statt, die das Festival einen ganzen Tag lang blockierte. Der erste Wettbewerbsfilm klang dagegen nur im Titel trocken: "Bread and Roses" - nach dem Arbeitskampfmotto: Brot und Rosen - des immer wieder sozial engagierten Briten Ken Loach ("Mein Name ist Joe") erzählt von illegalen Einwanderer in Kalifornien und nochmals vom brutalen Kampf um minimale Arbeitsrechte. Loach zeigt viel Herz für die Menschen im Schatten und schafft es erneut, mit unbekannten Gesichtern große Gefühle herauszustellen. Auch wenn man diese Geschichte schon oft gesehen hat, muss sie doch immer wieder neu erzählt werden. Auch das gehört zur Größe Cannes, dass es den Mut hat, anscheinend unzeitgemäßes Engagement groß zu präsentieren.

Eine andere Geschichte von unten krönte den musikalischen Reigen der Filmfestspiele und sahnte den Hauptpreis ab: Nachdem Kompositionen von YoYo Ma, John Cale, Kronos Quartett und Ryuichi Sakamoto die Soundtracks verwöhnten, lieferte Björk in "Dancer in the Dark" den Höhepunkt. Die kleine Isländerin mit der gewaltigen Stimme war der Star und schrieb die Musik für den Lars von Trier ("Breaking the Waves"). Der Däne, der immer einige Preise aus Cannes mitbringt, zauberte eine faszinierende Mischung aus herzzerreißendem Melodram und eskapistischen Musicalmomenten in den bis zum Kritikervolksaufstand überfüllten Festivalpalast.

Während die Wartenden sich draußen mit den Türstehern prügelten, erklang bei geschlossenem Vorhang eine Ouvertüre, so wie man es zuletzt bei "Lawrence von Arabien" erlebte. Björk spielt die Arbeiterin Selma. Ihre große Leidenschaft sind Musicals, doch sie gibt und spart alles für die Operation ihres Sohnes, der wie sie an einer erblichen Augenkrankheit leidet. Halbblind opfert sie sich in unerträglich gefährlichen Nachtschichten, doch aus dem Rhythmus der Maschinen erträumt Selma sich Musik und fantastische Musicalszenerien. Die Kompositionen beginnen mit einem Industrie-Sound und blenden - im Gegensatz zu den alten Musicals - die unerträgliche Realität nicht aus. Björk bekam für die wirklich eindringliche Leistung die Palme als "Beste Darstellerin", aber selbst beim Regisseur und bei Mitspielerin Catherine Deneuve konnte die Kritik nicht zurück gehalten werden: Björk sei sehr anstrengend, weil sie nicht spielt, sondern alles wirklich erleben muss.

Nach dem bejubelten "Dancer in the Dark" tanzte sich in "Dancer" ein Junge aus schwierigen Verhältnissen in die Freiheit der Kunst: Der Halbwaise Billy hat es mit seiner Tanzleidenschaft in der streikenden Bergarbeiterregion schwer. Eine Menge Ignoranz vor allem beim Vater ist zu überwinden bis es zur Aufnahmeprüfung an der Londoner Royal Ballett School kommt. Tolle Tanzszenen, Anteilnahme am Arbeiterleben und beste Filmkunst machen das Regiedebüt des britischen Theaterregisseurs Stephen Daldry zu einem sicheren Hit auch für unsere Kinos.

Ang Lee, der mit "Sinn und Sinnlichkeit" oder "Eissturm" begeisterte, und dessen Western "Ride with the Devil" gerade durch die US-Kinos reitet, kehrte zu einem der erfolgreichsten Genres seiner Heimatregion zurück: Das historische Melodram "Crouching Tiger, Hidden Dragon" ist ein Meisterstück der asiatischen Kampf- und Fantasie-Ecke. Faust- Fuß- und Schwertkämpfe, die "Matrix" wie Ringelreihen aussehen lassen, sind gepaart mit relativierendem Humor und wachsen in atemberaubenden Momenten in die Sphäre der Poesie empor. Die besten Schauspieler (u.a. Chow Yun Fat), exquisite Ausstattung und packende Handlung zeichnen dieses Meisterstück aus.

Star im Leerlauf
Am Wochenende der Feiern verwandelt sich die Strandpromenade Croisette immer in einen großen Jahrmarkt mit Straßenmusik, Strandfeten und immer wieder aufblitzenden Stars. Das traditionelle Verkehrschaos verordnete der Prominenz unerwartet Bewegung. So joggte Jean-Claude Van Damme im Anzug zum Hotel, wie im Slapstick verfolgt von schwitzenden Body Guards und kreischenden Fans. Nur stille Begeisterung verursachte das mit Spannung erwartete Werk der Coen-Brüder "O Brother, Where Art Thou?", die mit "Fargo" mehrmals zu Oscar-Ehren kamen. Der Ausbruch dreier Sträflinge - gespielt u.a. von George Clooney und John Turturro - variiert mit vielen Anspielungen Homers Odyssee und zeichnet gleichzeitig ein sehr musikalisches Bild der amerikanischen Depressionszeit in den Südstaaten. Die Coens beherrschen ihre Filmkunst, aber leider zeigen sie nur noch ganz wenige der außergewöhnlichen Bilder, mit denen sie früher begeistert haben.

Erst am Ende des Wettbewerbs ließ "Sånger från andra våningen" des Schweden Roy Andersson das Publikum noch mal richtig lachen: Der Film besteht aus 45 mit unbewegter Kamera gefilmter Szenen, die auf skurrilste Weise Auswirkungen einer ökonomischen Krise aufzeigen. Die absurden Szenen stecken voll schwarzen Humors, ein einzigartiger Ideenreichtum, der ab und zu an Bunuel, Monty Python oder an die schwarzen Comics von Franquin erinnert. Die Musik komponierte übrigens Benny Andersson, der Bart von ABBA. Doch es ist nicht nur der schwarze, zynische, freche und überraschende Humor, mit dem der Regisseur begeistert. Ihm gelingen eindrucksvolle Massenszenen, er arbeitet auf spannendste Weise mit der Tiefe des Bildraumes. Dabei ist jede der eierschalenfarbenen Szenen bis ins letzte Detail perfekt durchkomponiert. Als Belohnung gab es den "Großen Preis der Jury".

Wong Kar-Wai, der vor wenigen Jahren mit "Chungking Express" und "Fallen Angels" das internationale Kino beschleunigte, vollführte nun mit "In the mood for Love" ein Kunststück der Langsamkeit: Hongkong, im Jahre 1962. Zufällig landen die Sekretärin Mrs. Chan (Maggie Cheung) und Mr. Chow (Tony Leung) in der gleichen Wohnung, die sie mit mehreren Familien teilen müssen. Die beiden eint nicht nur eine gegenseitige Sympathie, vor allem die Seitensprünge ihrer jeweiligen Partner bringen Mrs. Chan und Mr. Chow zusammen. Der weitere Verlauf macht wieder schmerzlich schön deutlich, dass Melodram eine chinesische Spezialität ist, auch wenn der Film in Thailand gedreht wurde. Wong Kar-Wais neues Kinokunststück ist sehr stylish und überraschend statisch. Rasten früher die Bilder durch Hongkong, bevor sie stilvoll erstarten, variiert der dynamische Regisseur jetzt nur mit Zeitlupe. Die an Farben und Mustern reiche Retro-Ausstattung und -Kleidung sind ein Augenschmaus. Tony Leung hat die Jury sich als "Besten männlichen Hauptdarsteller" erwählt.

Eine freudige Wiedergeburt erlebten Cineasten in der anspruchsvollen Nebensektion "Quinzaine des Réalisateurs": Friedrich Wilhelm Murnaus berühmter Stummfilm "Nosferatu" wurde von dem bislang unbekannten amerikanischen Regisseur E. Elias Merhige in "Shadow of the Vampire" schauerlich-spaßig entschlüsselt.

John Malkovich spielt den berühmten deutschen Regisseur Murnau, der seine Crew 1921 für den Vampirfilm in grausige Gefilde treibt. Alle rätseln, wer denn wohl der Darsteller des Grafen Orlok sein soll. Erst am Drehort gesellt sich die bleiche Gestalt Max Schrecks mit den unendlich langen Fingernägeln zum Team und bleibt von nun an ganz in der Rolle des Blutsaugers. Als der Kameramann erkrankt und Murnau sich bei Schreck über einen Vertragsbruch beschwert, rätselt man, ob diese seltsame Gestalt ihre Vampir-Rolle nicht etwas zu glaubwürdig spielt ...

Genau wie der anscheinend begriffsstutzige Schreck voll in Graf Orlok aufgeht, so verschwindet Willem Dafoe perfekt unter dessen Maske - ein faszinierendes Vexierbild! Mit vielen genau nachgestellten Szenen ist der von Nicolas Cage produzierte "Shadow of the Vampire" als freie und sehr originelle Interpretation des Stummfilmklassikers gelungen. Merhige zeigt die gleichen Schattenkreuze, baut Zwischentitel ein und ergänzt den Stummfilm um den klappernden Ton der Fingernägel. Man muss an Tim Burtons "Edward mit den Scherenhänden" denken, aber der ist ja ein direkter Nachfahre Nosferatus. Das wahre, erschreckende Monster ist jedoch der Regisseur Murnau, der für seine filmische Obsession über Leichen geht. Seine moderne Lektion für den Vampir: Nur der Film kann dich wirklich unsterblich machen!

Deutsche Dichter in Cannes
Während der Dichter Brecht und die Schriftstellerin Gisela Elsner in ruhig gelungenen Filmen gewürdigt wurden, hielt der ehemalige Verleger Naumann bei den 53.Internationalen Filmfestspielen Cannes die Reden. Die finanzielle Zukunft der "Außenwirtschaftstelle" Exportunion ist unklar. Der Staatssekretär für die Bundeskultur Naumann redete unspezifisch von "Umschichtungen" und beim Buffet des deutschen Empfangs wurde bereits radikal am Essen gespart. Da waren die neuen Filme von Jan Schütte und Oskar Roehler in den Nebensektionen umso reichhaltiger: "Die Unberührbare", die letzten Lebenstage von Roehlers Mutter, der Autorin Gisela Elsner, kamen gut an und können auch noch in deutschen Kinos genossen werden. Andere letzte Lebensstunden, die von Bert Brecht, hielt Jan Schütte in "Abschied" fest: 1956 verbringt der Staatsautor der DDR den letzten Ferientag in Buckow bei Berlin. Der Herzkranke ist umgeben von seinen Frauen, deren verständlichen Eifersüchteleien. Er wird in diesem Hofstaat von Josef Bierbichler als grummeliger, brüllender und furzender Klotz gespielt. Zwischendurch schreibt er mit letzter Kraft ein Gedicht, während hinter seinem Rücken Freunde an die Polizei verraten werden. Die Stunden vor dem Abschied vom See stellen einen kleinen Ausschnitt dar, nur eine Stimmung, eine gelungene Momentaufnahme. "Abschied" wurde wie "Die Unberührbare" mit besonderem Applaus in Cannes aufgenommen.

Nach den Meilensteinen 100 Jahre Film und 50 Jahre Cannes steht dem bedeutendsten Filmfestival eine Wende bevor. Der auch für das Programm verantwortliche Direktor Gilles Jacob zieht sich in den Vorstand zurück. Ein designierte Nachfolger braucht inzwischen selbst einen Nachfolger, nachdem er unter seltsamen Umständen wieder abbestellt wurde. Eine Situation ähnlich wie bei der Berlinale, die Franzosen regeln dies allerdings diskreter.

Während die Zukunft in Form des Internets nicht mehr die ganz großen Schlagzeilen macht, sucht ein origineller Ansatz aus Deutschland nach neuen Wegen: Nach der Börse entdeckt auch die Filmfirmen den Kleinanleger und bieten Anteile einzelner Filme an. Filmcasino.com beteiligt sich an der Werbung für seine Projekte und wenn dann jeder die Freunde mit in seinen Film nimmt springt auch noch eine Gewinnbeteiligung raus. Zum Glück hat Cannes wieder gezeigt, dass es viele andere gute Gründe gibt, ins Kino zu gehen.

PS: Einige Unruhe gab es über vermehrte und brutaler Diebstähle, dabei sollte die Polizei jedoch zuerst gegen die seit Jahren unbehelligten Einheimischen vorgehen, die mit unverschämten Preisen die Festivalgäste ausrauben.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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