Berlinale 2005

Festivalberichte von Günter H. Jekubzik und Oliver Schiffers


Die 55. internationalen Filmfestspiele in Berlin
10. - 20. Februar 2005

Berlinale geht in die Tiefe

In der zweiten Hälfte zeigte die Berlinale erfreulichen Tiefgang. Ein- und Abtauchen war angesagt in der verrückten Costeau-Parodie "Life Aquatic", Abgründe der menschlichen Seele erforschte Christian Petzold mit dem deutschen Wettbewerbsbeitrag "Gespenster" und tief in das Wesen amerikanischer Prüderie ließ der Sexualforscher "Kinsey" blicken.

Unaufgeregt verlief die 55.Berlinale (10.-20.2.2005) mit - je nach Geschmack - zu wenig oder völlig ausreichendem Staraufgebot. Die Klatsch-Kollegen mussten ihren Themen hinterher laufen, die anderen konzentrierten sich auf Filme. Unter der eindrucksvollen Präsenz deutscher Filme im Wettbewerb und in anderen Sektionen ragten als Höhepunkt Petzolds "Gespenster" heraus: Eine Frau fährt jedes Jahr nach Berlin. Sie sucht verzweifelt ihre Tochter, die 1989 im Alter von drei Jahren entführt worden ist und verschwunden blieb. Als die Frau die Streunerin Nina entdeckt, glaubt sie, ihre Tochter wieder gefunden zu haben. Regisseur Petzold, der mit "Pilotinnen", "Die Beischlafdiebin", "Die Innere Sicherheit", "Toter Mann" und "Wolfsburg" die Feuilletons begeisterte, sagt zu seinem neuen intensiven Werk: "Gespenster, das sind Gestalten, die nicht einsehen wollen, dass sie tot sind. Die herumspuken, in den Zwischenreichen, zwischen den Lebenden und den Toten. Die hoffen, dass die Liebe sie wieder lebendig machen kann." Bemerkenswert ist vor allem der Auftritt der jungen Julia Hummer. Sie faszinierte schon als verlorene Tochter eines vergessenen RAF-Pärchens in "Die innere Sicherheit" und Petzhold versprach ihr, sie nicht in der Isolation dieser Rolle zurück zu lassen. Auch deshalb entstand dieser zweite Teil einer Trilogie, die ebenfalls "Gespenster" heißt.

Auch wenn bei "The Life Aquatic with Steve Zissou" von Wes Anderson ("The Royal Tenenbaums") alle Figuren Verlorene ihrer Schrulligkeiten sind, brauchen sie doch Bleigewichte, um Tiefe zu gewinnen: Nur von roten Wollmützen vor seinem offensichtlichen Wahn behütet, einen sagenhaften Hai zu finden, stürzt sich der Meeresbiologe Steve Zissou (Bill Murray) in ein technisches und vor allem personelles Chaos mit wieder gefundenem Sohn, beleidigter Frau, willfährigen Praktikanten und schleimigem Konkurrenten. "Die Tiefseetaucher", eine wunderbare Parodie all der Meeresdokus von Jacques Cousteau liefert in jeder Szene eine Albernheit, eine feucht-fröhliche Skurrilität mit unfassbar prominenter Besatzung, die sich von ihrer komödiantischen Seite zeigt.

Anderson sagte, wer amerikanische Filme pauschal ablehnt, würde sich mit einem Satz eine Menge Erlebnisse versagen. Hat er im Prinzip recht und im Besonderen auch bei "Kinsey", dem Abschlussfilm der Berlinale: Die Biografie des amerikanischen Biologen Alfred C. Kinsey (1894 -1956), der mit seinem Kinsey-Report das Bewusstsein von Sexualität revolutionierte, ist erschreckend perfekt getimt. Liam Neeson spielt den spleenigen Wissenschaftler, der zuerst zehntausendfach Insekten untersuchte, bevor er mit zahllosen persönlichen Interviews die verschwiegene Sexualität des amerikanischen Mannes bloßlegte. Das war in den Fünfzigern ein Skandal, als man noch verbreitete, Masturbation führe zur Erblindung. Und das ist heute wieder ein Skandal. Während die Bush-Jünger mit Unwahrheiten Enthaltsamkeit predigen, haben es Geschlechtskrankheiten dank neuen puritanischer Unwissenheit leichter. Da darf es einen mut machenden und aufklärenden Film wie "Kinsey" nicht geben. So wird das sympathische Porträt von verschiedensten Organisationen angegriffen. Wie Kinsey damals vom FBI-Chef Hoover, dem mörderischen Saubermann, der heimlich als Transvestit schillerte.