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Der fliegende Holländer

NL/B/BRD 1995 (De vliegende hollander) Regie Jos Stelling, 135Min.

"Campanelli gebraucht Phantasie, um Kinder und Erwachsene zurühren und zu verführen." (Nino Manfredi zu seinerRolle)

"Der Fliegende Holländer" ist eine Ausgeburt der Phantasie -in vielerlei Hinsicht. Und mit der Besonderheit, daß derfabulierende Phantast, der große Teile dieser Geschichtegebiert, selbst unter die Räder seiner Erfindung gerät.Campanelli wird sich für das Fortleben seiner Schöpfungenopfern. Die Fabel ("favola" heißt es im Film selbst) ist eineKopfgeburt. "Der fliegende Holländer" beginnt mit einem riesigenMetallkopf, der durchs platte Land gezogen, langsam hinter demHorizont auftaucht. Die abgeschlagene Bronze wird getragen vonmehreren Männern - wohl Kirchenräuber zu Zeiten desBildersturms in den "niederen Landen". Der Vorspann gibt das Jahr1568 an. Die alten Heiligenbilder wurden enthauptet, aber bald rolltauch der abgeschlagene Kopf eines der Räuber den umstehendenBauern in die Hände. Eine Inquisitionshorde meuchelt dieKirchenschänder. Nur einer kann sich im Kopf verstecken, umspäter in den leidenschaftlichen Umarmungen einer Bauersfrau zuversinken. Die brutale Rache des gehörnten Gutsherrn Netelneckfolgt umgehend. Der Fremde wird bis zu den Schultern in eingewaltiges Dungbecken inmitten des Hofes versenkt, kann aber mitHilfe des in schwarze Federn gehüllten Gauklers Campanellischwerverletzt entfliehen. Die Bäuerin stirbt bei der Geburtihres unehelichen Sohns und der Vogelmensch erzählt Jahrespäter dem einfältigen, von Bruder und Stiefvatergedemütigten Jungen die Geschichte seines wahren Vaters, einesKapitäns, des fliegenden Holländers ...

Diese rasche Folge von Ereignissen läuft unter dererdig-schweren Musik Nicola Piovanis schon im Prolog vor denfolgenden drei Akten ab. (In dieser Einteilung findet sich eine derwenigen Annäherungen an die gleichnamige Wagner-Oper.) Mitten imSchlamm, in der vom fabulierenden Italiener Campanelli beklagtenKulturlosigkeit, liegt im Dungbecken eine goldene Monstranz, derfortan alle nachjagen. Inmitten der düsteren Geschichte einerfinsteren Zeit, zwischen dumpfen Gestalten entfaltet sich auch einunfaßbarer Reichtum filmischen Erzählens, ein üppigesOpus eigenwilliger Visionen, phantastischer Ideen undunkonventioneller Wendungen. Um ein Handlungsgerüst, das denHolländer mit einer Frau vom erdigen Geburtsort ans Meer fliehenläßt und ihn schließlich in ein holländischesZuchthaus steckt, spinnt sich eine überbordende Vielfalt vonGeschichten, Typen und Themen. Neben dem märchenhafte Motiv desRabens, der auch noch nach Campanellis Tod den suchendenHolländer begleitet, bereichern Narren, Zwerge und Wunder dasflache Land. Während die erdigen Gestalten sich aus niedererHabgier im Kot suhlen und Gold suchen, interessiert den Bastard dieWahrheit über seinen Vater. Sie liegt scheinbar im leichtestenElement: "Du findest deinen Vater nur, wenn du gelernt hast zufliegen," gab der italienische Erzähler dem Holländer mitauf den Weg. Vom Bronzekopf, um den mittlerweile ein Wald gewachsenist, folgt er dem Fluß bis zum Meer und findet dort einenAnker, an dessen Leine er sich zu einem gestrandeten Schiffforttastet. Ausgestattet ist er mit dem Lederwamst seines Vaters, derihn - so erzählte Campanelli - unverwundbar machen soll.

"Ich habe alles erfunden, auch dich - eigentlich bin ich deinVater." (Campanelli)

Es beginnt wie ein Sinnbild der Kreativität: Der Kopf gebierteine Geschichte. Der Spielmann Campanelli erzählt sie weiter undder junge, fortan "Holländer" genannte Waise lebt sieschließlich bis zum phantastischen Ende. Aber die Geschichteerzählt sich nicht nur selbst durch einen Erzähler, der -für die entsprechende Entlohnung - auch in die Handlungeingreift, wann immer das allzu Konventionelle oder ein vorschnellesEnde drohen. Im Moment der Entscheidung zwischen Wahrheit undPhantasie wählt Campanelli die Fabel des fliegendenHolländers, an den der junge Holländer bereits glaubt.Diese Lüge bringt Campanelli um sein Augenlicht, denn der eifer-und rachsüchtige Bauer blendet ihn darauf in einer Lauge. Dochauch der blinde Erzähler geht weiter seinen Weg und opfertschießlich sogar sein Leben, damit "seine" Geschichte mit demjungen Holländer weitergeht.

Gleich in der ersten Szene, im Schlamm der Felder, sucht derSpielmann Campanelli in Federkostüm und Schellen dieAufmerksamkeit der umstehenden Bauern, um das Zusammenkommen desHolländers und der Bäuerin, die Zeugung naiven Heldens zuermöglichen. Campanelli lockt und beschimpft sein Publikum:"Arme Bauern! Idioten ohne Phantasie! Hört, hört,hört: Dies ist eine besondere Geschichte, die ihr alle liebenwerdet - ihr Häßlichen und ihr Schönen (eineAnspielung auf Manfredis Rolle in Ettore Scolas "Die Schmutzigen, dieHäßlichen und die Gemeinen"?), weil es eine Geschichte vonCampanelli ist. Sie ist lehrreich und etwas komisch. Hört ihrmich? Nein? Und wißt ihr warum? Weil ihr dumm, ängstlichhabsüchtig, zurückgeblieben, verrückt und schäbigseid." Für diese Weisheiten erntet Campanelli nur einenStockschlag des Bauern. Die Publikumsbeschimpfung Campanellis trafjedoch nicht die Falschen - kaum jemand in Europa wollte und konnteStellings "Holländer" sehen. Ein Schlag ins Gesicht desErzählers Jos Stelling.

Jos Stelling ist ein eigentümlicher Kinokauz: Er stammt wieder ebenfalls 1945 geborene Herman van Veen aus einem einfachenViertel der niederländischen Stadt Utrecht. Stelling sagt vonsich, daß er "eher Maler als Erzähler" sei. SpannendeStories sind nicht seine Sachen. Dafür ist er ein wahrer Erbevon Breughel und Bosch. Er schildert eine Bauernhochzeit beim"Fliegenden Holländer" in erdigen Farben, gibt sich burlesk beider eifrigen Suche nach dem Gold in einem riesigen Dungbottich.Stellings erste Filme "Mariken van Nieumeghen" (1974), "Elckerlyc"(1975) und "Rembrandt fecit 1669" (1977) schwelgten im Mittelalteroder belebten Rembrandts Gemälde. International gelang Stellingder Durchbruch mit zwei der extremen Typen, die derniederländische Film so häufig präsentiert: "DerIllusionist" (1983) und "Der Weichensteller" (1986). "Der FliegendeHolländer" wurde 1995 in den Niederlanden, in Belgien und inNordrhein-Westfalen gedreht und zeigt Stelling entgegen seinereigenen Einschätzung als großartigen Erzähler: DieseGeschichte läßt nie erahnen, wie sie weitergehen wird. Deran Mainstream und erzählerische Magerkost gewöhnteZuschauer wird hinweggeschwemmt von überbordendenEinfällen, Wendungen und Bilderfluten. Es ist schierunglaublich, daß es so etwas noch im Kino gibt. Und eigentlichgibt es den "Fliegenden Holländer" nicht im Kino. Obwohl eineMenge Geld der Filmstiftung NRW im Laderaum steckt, wartet er inDeutschland seit mehr als drei Jahren auf einen Verleiher. In denNiederlanden oder in Belgien war er kein Zuschauererfolg. Vielleichtwar der "Fliegende Holländer" auch die Götterdämmerungseines Regisseurs Jos Stelling. Nie mehr wird er an das "große"europäische Geld kommen. Dabei ist "Der fliegendeHolländer" ein ur-europäischer Film: Er sprichtfranzösisch, italienisch, flämisch, niederländisch. ImFlandern des 16. Jahrhunderts ist der Holländer ebenso ein Exotwie der italienische Spielmann. Holland hinter den großenFlüssen ist ein Traumland, das Unzählige anzieht. (Spieltder Name Campanelli auf den utopischen "Sonnenstaat" von Campanellaan?) Der flämische Bauer Netelneck versucht den Inquisitor mitFranzösisch für seine Zwecke einzuspannen. Der kleineHolländer versteht magischerweise Italienisch. Stelling, dieserbegnadete Ausnahmeschöpfer des Kinos kann in Zukunft nur nochseine Landsleute mit seiner Bildpracht beglücken. Bis vielleichtwieder ein Oscar die Welt sehend macht - wie bei denniederländischen Regiekollegen Marleen Gorris mit "AntoniasWelt" und Mike van Diem mit "Karakter".

Günter H. Jekubzik


Eine Kritik von GünterH. Jekubzik

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