Agnes und seine Brüder

BRD 2004 (Agnes und seine Brüder) Regie: Oskar Roehler mit Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Martin Weiß, Katja Riemann, Tom Schilling, Vadim Glowna, Margit Carstensen, Marie Zielke, Oliver Korittke, Martin Semmelrogge, Martin Feifel 115 Min. FSK ab 16

Wir sind die anderen - vom süßen Schmerz der Normalität

Von Günter H. Jekubzik

Vor dem Multiplex: "Ich kuck mir keinen deutschen Film an!" "Aber der ist mit Hitler drin!!!" Dass es auch ohne "mit Hitler drin" Gründe für einen deutschen Film geben kann, beweist "Agnes und seine Brüder", die neue Sensation von Oskar Roehler ("Die Unberührbare"), aufs vortrefflichste!

Es sind Szenen, die wir immer schon mal sehen wollten. Der geschniegelte Lobby-Mann für das Europäische Dosenpfand dreht durch und mäht seinen grünen Schutzwall mit der Motorheckenschere nieder. Ein Jägerzaun kommt unter den Passat. In der Unibibliothek laufen nur Frauen mit Hot Pants und Miniröcken rum. Von hier die Kurve zu Fassbinder zu bekommen, ist schon ein Kunststück. Aber der neue Roehler, der Nachfolger von "Die Unberührbare" und "Alter Affe Angst" ist Vergnügen und Kunst, ist Gesellschaftspanorama und -Satire.

Drei Brüder reiben sich am Leben, zwei von ihnen sind vor allem sexuell frustriert, der dritte leidet an gebrochenem Herzen und Körper. Und ist nach einer Geschlechtsoperation genau genommen jetzt eine Schwester. Doch bewahren wir die fast heilig Unglücklichen fürs Finale und wenden uns den ganz normal Wahnsinnigen zu.

Werner (Herbert Knaup), der erfolgreiche Lobbyist lebt in einer dieser Architekturperlen des Films und schläft mit seiner edlen Frau (Katja Riemann) - nicht mehr. Dafür pflegt der Herr Sohn (Axel Schilling) ein Haschischfeld im Garten und filmt den Vater in extrem peinlichen Momenten. Der Hundenarr Werner nennt übrigens seinen Köter nach dem guten politischen Freund Joschka. Über aller noch folgenden Verzweiflung steht Werners Motto: Ich werde damit fertig und ich bleibe normal!

Hans-Jörg (Moritz Bleibtreu), der biedere, verklemmte Bibliothekar ist einsam und sexbesessen in einer erst komischen, dann beängstigenden Fantasiewelt. Aber selbst die Selbsthilfegruppe der Sexsüchtigen kippt in diesem Film von schwerer Betroffenheit in abgedrehte Satire um. Am Ende bekommt er eine Einladung von einem schmierigen Pornofilmer (Martin Semmelrogge).

"Agnes und seine Brüder" entwickelt von den ersten, ungemein edlen Bildern an ein Gesellschaftspanorama wie bei Fassbinder - nur in allem steckt mindestens ein Moment Skurrilität. Dazu passen sehr schräge Einstellungen der Kamera und bis in die kleinsten Rollen extrem interessante Schauspieler. Die Menschen empfinden teilweise tiefste Abscheu voreinander und sind doch tragische Witzfiguren, was die Musik direkt gehässig kommentiert: Clowns to the left, jokers to the right ...

Knaup war noch nie so gut wie in diesem Film als elender Sieger. Katja Riemann steht das biestige, gefühlskalte Eheweib gut, das den Gatten frustriert auf die Couch zwingt. Vadim Glowna unvergleichlich als der zwischen möglichem Päderast und Freigeist unfassbare Vater der Brüder. Dazu super Musik, atemberaubende Ausstattung. Und: Martin Weiß als Agnes! Nur es/sie weiß, was sie will, wird aber mit Aids abgestraft. Ihr Tod nach einer traumhaften Begegnung mit einem Lover aus der Vergangenheit ist vielleicht der einzige ungebrochene Moment im Film und daher von einmaliger Schönheit.

"Agnes" sammelt Schicksale, mit denen sich einfache Filme einzeln ganz ernsthaft beschäftigen würden. Roehler spielt leicht und elegant mit ihnen, balanciert Leiden und Spott mit Vergnügen aus. Und dreht nebenbei einen Film, der sich nicht in ein paar Absätzen endgültig abhandeln lässt. Welch ein Segen in der Kinolandschaft!

www.x-verleih.de


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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