Anatomie eines Falls
Den Status, den Sandra Hüller spätestens seit der Oscarnominierung für Maren Ades „Toni Erdmann“ im internationalen Arthouse-Kino hat, kann man gut am diesjährigen Programm des Filmfestivals in Cannes bemessen. Dort war sie mit gleich zwei Filmen im Wettbewerb. Der eine, Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ (ab 29.2. im Kino), gewann den Großen Preis der Jury. Der andere, „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet, die Goldene Palme. Dass Sandra Hüller, die in beiden Filmen die Hauptrolle spielt, nicht den Darstellerinnenpreis mit nach Hause nahm, lag nach Ansicht vieler Kritikerinnen und Kritiker einzig und allein daran, dass in dieser Sektion laut Regelwerk keiner der ausgezeichneten Filme gewinnen kann.
Beide Filme leben von Hüllers Präsenz. Während sie allerdings in „The Zone of Interest“ die eiskalte Ehefrau eines SS-Offiziers spielt, ist ihre Rolle in „Anatomie eines Falls“ gänzlich gegensächlich. Sandra Voyter ist erfolgreiche Autorin und lebt mit ihrem nicht ganz so erfolgreichen Ehemann Samuel (Samuel Theis), ebenfalls Autor, und dem blinden Sohn Daniel in den französischen Alpen. In einem Interview mit einer Journalistin, die sie in das entlegene Chalet geladen hat, gibt sie sich selbstverliebt und unnahbar. Irgendwann wird das Gespräch jäh unterbrochen, als vom Dachboden ohrenbetäubende Musik erschallt. Sandra vermutet dahinter einen Versuch ihres Mannes ihre Selbstdarstellung zu sabotieren und verabschiedet die Journalistin. Kurz darauf liegt ihr Mann tot im Schnee. Ein Unfall wird schnell vermutet. Er renovierte das Dach und fiel aus dem Fenster. Doch plötzlich findet sich Sandra vor Gericht wieder. Was, wenn er nicht selbständig gefallen ist, sondern jemand nachgeholfen hat?
Das ist die zentrale Frage, die Justine Triets Drama in rund zweieinhalb Stunden verhandelt. Ein Großteil spielt sich dabei im Gerichtsaal ab. Dabei wird nicht nur der mögliche Mord, sondern die gesamte höchstkomplexe Beziehung des ungleichen Paares haarklein seziert, bei der vor allem Sandra in allen menschlichen Schattierungen gezeichnet wird. Das nuancierte Spiel von Sandra Hüller, die hier teilweise in drei Sprachen agiert, ist herausragend und trägt das dialoglastige Drama. Auch die Nebenrollen überzeugen, bis hin zu dem elfährigen Milo Machado Graner als Daniel, dem noch eine besondere Rolle in dieser spannenden, hochkomplexen „Anatomie eines Falls“ zukommt.
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- Publiziert von:
- Lars Tuncay, 03.11.2023 / 1:25
- Rubrik:
- Kritiken LT
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