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Tár
„Tár“, das eindrucksvolle Porträt einer egomanischen Künstlerin, auf Cancel Culture aus der Perspektive einer Ge-Cancelten im Kulturbereich zu reduzieren, wäre schade. Cate Blanchett brilliert im gnadenlosen Niedergang einer Star-Dirigentin.
Wir lernen Lydia Tár (Cate Blanchett), als erste weibliche Chefdirigentin kennen, die ein großes deutsches Orchester leitet. Eine beeindruckende Größe in ihrem Metier, die gerade eine Neuaufnahme an Mahlers Fünfter Sinfonie einstudiert. Auch die folgenden Szenen stellen das Können und die Bewunderung für die Dirigentin heraus. Ein souveränes Q&A mit dem bekannten New-Yorker-Autoren Adam Gopnik (der sich selbst spielt), weckt abgehoben beim Betrachter das Bedürfnis, im Musik-Lexikon nachzuschlagen. Lydia Tár – eine besondere Person auf der Höhe ihres Ruhms. Pure Eleganz, feinstes Handwerk, wie sie sich ein neues Sakko für den kommenden Job schneidern lässt. Und die Partitur für „ihren“ Mahler neu bindet.
Erst eine Master Class an der berühmten New Yorker Musikhochschule Juilliard bringt Kratzer ins eindrucksvolle Bild: Dort weist Lydia Tár ebenso eloquent wie sarkastisch einen Dirigenten-Schüler zurecht, der eine moderne Komposition einer jungen Frau präsentiert. Ironisch spielt sie mit Gender-Begriffen, nur um deutlich zu machen, dass Bach ganz unabhängig von Hautfarbe oder Stand zeitlos bewegende Musik geschaffen hat. Dann erfährt Lydia vom Selbstmord einer ehemaligen Mitarbeiterin, die einst für sie schwärmte, und das Einzige, woran sie denkt, ist das Vernichten von Mails der Verstorbenen. Auch wie eiskalt sie altgediente Orchester-Mitglieder feuert und bei der Neubesetzung ihre ergebene Assistentin Francesca (Noémie Merlant) übergeht, erschreckt. Und ihre Partnerin, die ersten Violine Sharon Goodnow (Nina Hoss), mit der sie ein Kind großzieht, brüskiert sie mit der unverhohlenen Bevorzugung einer neuen, jungen Cellistin. Als Lydia mit der Stieftochter und deren Puppen Orchester spielt und diese allen einen Taktstock geben will, erklärt die Dirigentin: „Das ist keine Demokratie!“
Es geht in „Tár“ nicht um juristische oder gesellschaftliche Details des Falls oder um Wahrheiten – die spielen in der Cancel Culture selten eine Rolle. Es geht um den Niedergang von purer Hybris, erzählt aus persönlicher Perspektive: Die extreme Perfektionistin Lydia Tár ist zunehmend durch Ticks anderer genervt. Dann reagiert sie hypersensitiv auf alle mögliche Geräusche, wird nachts von ihnen geweckt und sucht manisch die Wohnung nach der Ursache ab. Dazu hat sie immer seltsamere Albträume. Versuche, die Spannung am Sandsack und beim Laufen loszuwerden, scheitern.
Der für sechs Oscars nominierte „Tár” wird in der Kritik als Gegenfilm zu „She Said“ und Lydia Tár als Gegenfigur zu Harvey Weinstein gesehen. Allerdings ist hier nirgendwo etwas von sexueller Gewalt zu sehen. Ãœber Machtmissbrauch in Társ Beziehungen ließe sich diskutieren, der Film lässt diese Möglichkeit offen. Eine Fixierung auf dieses spekulative Thema würde dem Film nicht gerecht werden und das dunkel schillernde Psychogramm eines egozentrischen Genies extrem reduzieren. Lydia ist herrisch und fies in ihren Psychospielen. Als ihr alles entgleitet, bleibt nur ein Staunen. Keine Besserung, keine Demut. Und bei einigen der gnadenlosen Entscheidungen der genialen Dirigentin hallt die Lehre aus dem Kinderzimmer nach: „Das ist keine Demokratie!“ Damit steht „Tár“ mitten in der aktuellen Diskussion, inwieweit der elitäre Kunstbetrieb sich Ãœbergriffe seiner herausragenden Künstler erlauben will.
Cate Blanchett („Blue Jasmine“, „Aviator“) stellt mit ihrer großartigen Verkörperung des Egomanischen und des Sensiblen in Lydia Tár zwar das restliche Ensemble in den Schatten, aber es fällt auf, wie hervorragend auch die Nebenrollen besetzt sind: Noémie Merlant („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) gibt den psychologischen Gegenpart zu Lydia Tár, die aufopferungsvolle Assistentin Francesca. Und Nina Hoss („Yella“) durchlebt als Konzertmeisterin Sharon Goodnow die Eifersucht angesichts des unübersehbaren Auftritts einer jüngeren Konkurrentin.
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- Publiziert von:
- Günter H. Jekubzik, 23.02.2023 / 1:57
- Rubrik:
- Berlinale 2023, Kritiken GHJ
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