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Atlas (2021)

Schweiz, Belgien, Italien 2021, Regie: Niccolò Castelli, mit Matilda De Angelis, Helmi Dridi, Irene Casagrande, 90 Min., FSK: o.A.

„Frei“ erschallt das erste Wort im Film. Die kletterbegeisterte Allegra (Matilda De Angelis) gibt ihrer Seilschaft dieses Signal, aber die Freiheit der Bergsteiger über den Wolken ist euphorisch und überträgt sich durch die Bilder von Kameramann Pietro Zuercher ins Kino. Dann schneidet der Film auf eine nicht mehr leuchtende, eine düstere und schweigsame Allegra. Sie wurde Opfer eines Terroranschlags, bei dem drei ihrer Freunde ums Leben kamen. Zu sehen ist die verheerende Explosion erst spät im einfühlsamen Film: In der klugen Montage von Esmeralda Calabria gehört es zum Heilungsprozess, dass sich die äußerlich und innerlich Verletzte nicht dem furchtbaren Ereignis stellt – wir sehen es also auch nicht. Dafür erleben wir dank einer grandiosen Schauspielleistung von Matilda De Angelis („Der Göttliche Andere“, „Der Schatz des Duce“) jeden Schritt der Rehabilitation intensiv mit. Vor allem das im Gebirge so wichtige Greifen muss Allegra mit verletztem Arm neu erlernen, aber auch ihr Gleichgewicht wieder finden. Ganz praktisch auf der Slackline und ebenfalls im übertragenen Sinn. Parallel muss sich die junge, einst lebenslustige Frau mit ihren vorwurfsvollen Gefühlen gegenüber den Tätern auseinandersetzen, ohne in die platte Fremdenfeindlichkeit des Vaters zu verfallen. Dabei träumte sie vom Besteigen des Atlas-Gebirges in Marokko und ist jetzt fasziniert vom Oud-Spieler Arad (Helmi Dridi), einem Flüchtling aus dem Nahen Orient.

Regisseur Niccolò Castelli erarbeitete den Stoff zusammen mit seinem Koautor Stefano Pasetto nach einem wahren Ereignis, einem Terroranschlag in Marrakesch, bei dem drei Tessiner umkamen. Er interviewte die Überlebende und sieht die Angst der Allegra als eine aktuelle Erscheinung unserer Gesellschaften. Unabhängig von weitergehenden Bedeutungen packt die mühsame Heilung der jungen Frau durch intensives Spiel und hervorragende Inszenierung. Dass sich im fühlbaren Unterschied zwischen dunklem Luganer Stadtleben und den eindrucksvollen Aufnahmen freier Berg-Landschaft ein Weg ins Licht abzeichnet, nimmt nichts von der Eindringlichkeit dieses konzentrierten Porträts eines getroffenen Menschen und eines extremen Zustands.


Ein FILMtabs.de Artikel