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Mittagsstunde

Deutschland 2022, Regie: Lars Jessen, Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, 97 Min., FSK: ab 12

Ingwer, 47-jähriger Archäologie-Dozent an der Kieler Uni, kehrt in sein Heimatdorf Brinkebüll im nordfriesischen Nirgendwo zurück, um seine Großeltern Sönke und Ella Feddersen zu pflegen. Die Oma ist dement und auch der Opa braucht neuerdings Betreuung. Das Sabbatical schockt erst seine WG, wo er eine schwierige Dreierbeziehung führt. Dann ihn selbst, weil es doch nicht so einfach ist, wenn Oma immer wegläuft und der Alte alles andere als dankbar ist. Zu der Besonderheit, dass mal ein Mann die Älteren pflegt, kommen auch Verwerfungen in der Familiengeschichte: Rückblenden zeigen den jungen Ingwer vor allem zusammen mit Marret. Die geistig behinderte Tochter der Feddersens liebt das Singen in der Dorfkneipe der Familie, streunt herum und nimmt irgendwann die Phrasen der Zeugen Jehovas vom Ende der Welt ernst. Immer öfter sieht sie in der Natur dafür Zeichen und reagiert panisch.

Etwas vom Ende der Welt muss auch der erwachsene Ingwer bei seiner Wiederkehr feststellen: Das (fiktive) Dorf Brinkebüll, in das Mitte der Sechzigerjahre die Landvermesser kamen und Unheil säten, um die große Flurbereinigung vorzubereiten, ist in der Jetzt-Zeit eine bequem mit dem Auto zu erreichende Schlafstätte für Zugezogene. Während Sönke energisch und stolz die Vorbereitungen für die „Gnadenhochzeit“, den 70. Hochzeitstag, vorantreibt, will ein alter Kumpel die Gaststätte mit Tanzsaal kaufen und zur einer Western-Kneipe umwandeln.

Der aus Norddeutschland stammende Regisseur von Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb“, „Dorfpunks“, „Fraktus“) erzählt nach einem Drehbuch von Catharina Junk („Die dunkle Seite des Mondes“) eine rührende Familiengeschichte und voll leiser Melancholie vom Verfall der Dorfkultur. Die psychologischen Feinheiten wirken äußerst stimmig, etwa wenn der Vater meinte, er muss mit dem Selbstmord der Tochter für seine Kriegsverbrechen zahlen. Rührend sind die Erinnerungen vor allem an die Schwester Ingwers, die eigentlich seine Mutter ist, die mit frühem Kind überfordert war. All diese Geschichte und das Gefühl dabei, erleben wir über das geniale Spiel Charly Hübners („3 Tage in Quiberon“, „Lindenberg! Mach Dein Ding“), der hier noch besser als sonst schon aktiert. Sein Ingwer, der nach der Flucht vor der Dorfexistenz nie so richtig wusste, was und wie, muss plötzlich Entscheidungen treffen. Allerdings nimmt das Schicksal ihm einige ab.

Auch die anderen Rollen sind durchgehend erstklassig besetzt: Sönke und Ella Feddersen werden von in ihren jüngeren Jahren von Rainer Bock („Das weiße Band“, „Der Fall Collini“) und Gabriela Maria Schmeide („Systemsprenger“) verkörpert. Gro Swantje Kohlhof („Wir sind jung. Wir sind stark“) hätte als Marret auch die Hauptrolle tragen können. Eine rundum stimmige Inszenierung mit einem Cast auf höchstem Niveau und in Bestform machen „Mittagsstunde“ ganz ohne Sensationen zum sensationell guten Film.


Ein FILMtabs.de Artikel