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Haute Couture РDie Sch̦nheit der Geste

Frankreich 2021, Regie: Sylvie Ohayon, mit Nathalie Baye, Lyna Khoudri, Pascale Arbillot, Claude Perron, 101 Min., FSK: ab 12

Sie ist immer als erste im Modeatelier, nie entspannt und furchtbar einsam in ihrem strengen Leben mit seinen kleinen Ritualen. Die Direktrice Esther (Nathalie Baye) fertigt für das Modehaus Dior seit vielen Jahren die Haute Couture-Kollektionen. Nun steht sie vor dem Ruhestand und bereitet ihr letztes Kleid vor. Einen kurzen Moment der Zerstreuung, in der Metro spielt eine junge Frau ein Lied, bereut sie sofort: Ihre Handtasche wird gestohlen, die Musikantin will sie zurückholen und Ester bleibt mit deren Gitarre konsterniert zurück.

Wir hatten vorher schon die Diebin und die vermeintliche Retterin kennengelernt: Die junge, rebellische Jade (Lyna Khoudri) klaute bereits die Gitarre und die andere Diebin ist ihre Freundin Souad (Soumaye Bocoum). Beide sind arabischer Abstammung, wohnen im Banlieu Seine-Saint-Denis und haben keine Jobs. Aber Jade besinnt sich und bringt die Tasche zu Esthers Arbeitsplatz bei Dior. Die überrascht wiederum mit einer Einladung zum Abendessen und dann bald mit dem Angebot eines Praktikums in ihrem Atelier.

Es gibt auf beiden Seiten viel Reibung: Esther hat zwar ihr Herz für den Tochter-Ersatz Jade geöffnet, doch die strengen Sitten und Rituale, ja schon die Pünktlichkeit fordern die oft aufbrausende junge Frau. In Jades Wohnsiedlung sorgt der Sinneswandel für Irritation. Vor allem Freundin Souad lästert über die eingebildeten Reichen. Richtig fies ist allerdings die Rassistin Andrée (Claude Perron) im Studio mit ihren Schikanen und dem Mobbing.

„Haute Couture – Die Schönheit der Geste“ lässt zwei soziale Welten aufeinanderprallen und zeigt diese unterschiedlichen Sphären oft parallel. Ins klinisch weiße Atelier mit den feinen und extrem teuren Stoffen platzt Jade mit ihrer billigen Fleece-Jacke. Doch – das rettet den Film vor der Klischeefalle – feine Nuancen und Verschiebung sind überall zu entdecken. So stammt die designierte Nachfolgerin Esthers aus dem selben Problemviertel Seine-Saint-Denis wie Jade. Und als die Atelier-Chefin ihren Zögling wieder einmal aus den Wohnsilos abholt, überrascht, wie viele Bekannte die „Elitefrau“ hier draußen hat. Die vor allem zu sich selbst strenge Chefin bekommt einige sehr coole Momente. Wie sie in Jades Siedlung von dem Typen vor dem Aufzug den Joint annimmt und sehr kräftig daran zieht, zeigt Stil und Humor.

Dass sich schließlich die zwei problematischen Mutter-Tochter-Geschichten in Wohlgefallen auflösen, wirkt etwas zu einfach. Wenn auch anrührend, das Atelier als Familie zu sehen, die selbst die Rassistin Andrée zurechtstutzt und integriert. Doch reichlich Themen verhindern, dass „Haute Couture“ banal wird. Und die kleinen Momente, etwa wenn Jade Esther beim Tablettenschlucken erwischt und meint: „Diabetes und tablettenabhängig – und ich bin ein Problemfall?“

Nathalie Baye („Rette sich, wer kann (das Leben)“, „Eine merkwürdige Karriere“) hat als strenge, aber warmherzige Esther eine großartige Rolle, die sie in jeder Faser wunderbar ausfüllt. Lyna Khoudri, die freche Revoluzzerin aus Wes Andersons „The French Dispatch“, begeistert mit einer sehr lebendigen Balance zwischen den Welten erneut.


Ein FILMtabs.de Artikel