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Große Freiheit

Deutschland, Österreich 2021 Regie: Sebastian Meise, mit Franz Rogowski, Georg Friedrich, Anton von Lucke, 116 Min. FSK: ab 16

Der Auftakt ist eigentlich unvorstellbar und doch erst junge Vergangenheit in Deutschland: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) wird 1959 wegen sexueller Handlungen mit anderen Männern zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. In der Bundesrepublik Deutschland! Doch in dem auf ruhige und intensive Weise tief bewegenden Drama um den berüchtigten Paragrafen 175 wird es in einer früheren Zeitebene noch viel schlimmer. Die erste Haft für Hans wegen Homosexualität nach dem Krieg ist eine direkte Verlängerung des Aufenthalts im Konzentrationslager. Weil der junge Mann dort schon 14 Monate überlebt hat, braucht er „nur noch“ vier Monate im nicht für alle freien neuen Deutschland einzusitzen.

Das schockt selbst den groben Zellengenossen Viktor (Georg Friedrich), der zuerst nicht mit einem Schwulen in der Zelle sein will. Die „175“ an der Tür kennzeichnet Hans. Viktor hat die „211“, er sitzt wegen Mord aus Eifersucht an seiner Frau, wie er erst sehr spät erzählen wird. Jetzt hat der starke Mann aber Angst, angefasst zu werden, und stellt die Zelle auf den Kopf: „Ich bin net so einer“. Erst als er die eintätowierte KZ-Nummer sieht, ist auch er von der Unmenschlichkeit der systemübergreifenden Strafe schockiert. Viktor wird ihm die Nummer des Terrors heimlich nachts in der Zelle überstechen.

„Große Freiheit“ ist kein Gefängnisfilm mit gewaltsamen Szenen der Unterdrückung. Vielmehr eine Liebesgeschichte, die hauptsächlich im Knast stattfindet und auch dort endet. Es ist erstaunlich und schmerzlich, wie selbstverständlich sich Hans hinter Gittern bewegt. Im Dunkel der erneut verordneten Einzelzelle klären Rückblenden über die Abfolge von Verurteilungen auf. Wir erleben Hans nur ganz kurz draußen. Super8-Aufnahmen in der Natur mit seinem jungen Geliebten, der auch verurteilt wird, wirken fast surreal in dem bedrückend schönen Chiaroscuro, mit dem die französische Kamerafrau Crystel Fournier die Zellen zeichnet.

Die große bittersüße Geschichte des Films wird allerdings die mit Viktor sein. Er ist nicht der dumpfe Homophobe, dazu ist diese Gestalt selbst viel zu gebrochen. Ein zu Lebenslang verurteilter Mörder, der sich erst als Junkie selbst einsperrt. Denn eine Bewährungs-Verhandlung verpennt er, weil er sich eine Überdosis setzt. Das gibt dem Verhältnis von Hans und Viktor, die immer wieder im Knast aufeinandertreffen, eine neue Wendung. Eine respektvolle Freundschaft ist im Laufe der Jahre entstanden. Der Abhängige will nun in die Zelle des Schwulen, damit der ihm als Freund beim kalten Entzug hilft. Diesmal ist es ein Sich-Nahe-Kommen ganz anderer Art.

„Große Freiheit“ feierte seine Weltpremiere in Cannes in der Neben-Sektion „Un Certain Regard“, wo er den Großen Preis der Jury erhielt. Zudem wurde er beim Filmfestival in Sarajevo als bester Film ausgezeichnet. Der Darstellerpreis ging an der Österreicher Georg Friedrich („Stereo“, „Wild“, „Mein bester Feind“), doch eigentlich wird der Film gemeinsam von Franz Rogowski und Georg Friedrich in den Hauptrollen getragen. Als am Mythos untergehender Tieftaucher in „Undine“, als Nazi-Emigrant in „Transit“, als Stapler-Fahrer „In den Gängen“ oder als frustrierter Konzernsohn (von Isabelle Huppert) in „Happy End“ – Franz Rogowski ist in jedem Film, unter jeder Regie ein Erlebnis. In „Große Freiheit“ bekommt sein grandioses Spiel besonders viel Raum. Oder besser: Hier wirkt es umso mehr beim, nein, nicht Kammerspiel, aber doch intensivem Aktieren auf engstem Zellen-Raum. „Große Freiheit“ – ein Kinoereignis und ein Mahnmal gegen die grausame Unmenschlichkeit, die Liebe in vielen Ländern immer noch verbieten will.


Ein FILMtabs.de Artikel