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Das schweigende Klassenzimmer

BRD 2017 Regie: Lars Kraume mit Leonard Scheicher, Tom Gramenz, Lena Klenke, Jonas Dassler, Isaiah Michalski, Ronald Zehrfeld, Jördis Triebel, Florian Lukas, Burghart Klaußner, Michael Gwisdek 111 Min. FSK ab 12

Es war eine kleine Aktion, jugendlicher Überschwang bringt 1956 eine Schulklasse in der DDR-Mustersiedlung Stalinstadt dazu, wegen der Unruhen in Ungarn für zwei Minuten zu schweigen. Das gibt erst nur ein paar Fünfen, aber der kleine Akt, sein Gerechtigkeitsgefühl auszudrücken, gerät zur Staats-Affäre im Arbeiter- und Bauernstaat. Sogar der Volksbildungsminister (Burghart Klaußner) taucht auf und vermutet eine „Konterrevolution“. Seine Assistentin Frau Kessler (Jördis Triebel) führt die inquisitorischen Gegenmaßnahmen durch: Die „Rädelsführer“ müssen verraten werden, sonst könne die ganze Klasse das Abitur vergessen.

Regisseur Lars Kraumes neuer Film nach seinem vielfach preisgekrönten „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) stürzt sich direkt rein in das Dilemma einer wahren Geschichte aus dem Kalten Krieg, die Dietrich Garstka aufzeichnete – einer der insgesamt 19 ehemaligen Schüler. Gleich am Anfang wird gefragt „Wofür lässt man sich erschießen?“ Ganz so dramatisch wird es in diesem Fall nicht, aber die Entscheidung „Revolution oder sich im Leben durchmogeln“ liegt mehrfach an. Während die Klasse in einem System zermahlen wird, das sich schon sehr gut mit den Mitteln von Terror und Diktatur auskennt, bildet sie den Fokus der Geschichte.

Die historische Situation der DDR wird im Mikrokosmos Stalinstadt mit ein paar Schlaglichtern dargestellt: Das Verbot, den West-Sender Rias aus zu hören, die noch möglichen Grenzübertritte in den Westen mit seinen Verführungen in Geschäften und Kinos. Die phrasenhafte Selbstdefinition als antifaschistischer Staat, der sehr präsente militärische Druck der Sowjetunion auf die „sozialistischen Brüderstaaten“. Und nur ganz am Rande auch etwas Hoffnung auf ein besseres Leben in einem besseren Land.

Im Gegensatz zum letzten Film von Kraume um das Verschweigen im Westen zeigen sich hier die Folgen des deutschen Faschismus in einer unmenschlich harten Haltung gegen jeden, der von der Regimelinie abweicht. Doch die Zusammenfassung des schwulen Bohemiens und erstem Opfer Edgar (DDR-Schauspieler Michael Gwisdek als authentisches Personal) ist universell: „Ihr habt euch als Freidenker zu erkennen gegeben und das mag kein System. Das Individuum muss sich fügen.“

Die Erzeugung eines Denunzianten und Spions wird eindrucksvoll mit ausgezeichneten jungen und alten Darstellern in handwerklich braven Historien-Kulissen erschreckend einfach vorgeführt. Im Laufe der dramatischen Entwicklungen zeigt sich das gleiche Dilemma in den Biografien der Eltern. Doch hier lässt das Drehbuch nach: Einem fast gewaltsam linientreuen Parteipolitiker wird Selbstjustiz im KZ angehängt, der Volksbildungsminister wurde von der Gestapo gefoltert, Theos Vater (sehr präsent: Ronald Zehrfeld) hatte sich 1953 am Aufstand beteiligt und büßt nun stumm. Nur beim Schuldirektor wird genauer hingeschaut: Was machte diese Menschen zu Verrätern, Kollaborateuren und Monster?

Vieles vom Schweigen und Gehorchen rund um den kleinen politischen Akt wirkt heute schwer nachvollziehbar, macht aber dadurch umso mehr den Wert von freier Meinungsäußerung und aufrechtem Handeln klar. Stalinstadt heißt seit 1961 Eisenhüttenstadt, doch mit der Konzentration auf eine sympathisch solidarische Klasse bleiben die Konflikte zeitlos. Das letztlich „fliehende Klassenzimmer“ ist historisch Teil einer Massenflucht, die schließlich zum Bau der Mauer führte. Schneeflocken kündigen eine lange politische Eiszeit an.


Ein FILMtabs.de Artikel