Zusje - Schwesterchen

NL 1995 (Zusje) Regie Robert Jan Westdijk

Martijn Zuidewind kommt zurück ins heimatliche Amsterdam. Mitseiner Kamera verfolgt er jeden Schritt der erst überraschten,dann flüchtenden Schwester Daantje (Kim van Kooten). Ihr Empfangist nicht gerade freundlich, doch schnell erweist sich die konstanteBeobachtung durch Martijns Kamera als nervig. Er bleibt kein reinerBeobachter, greift intrigant ein und lenkt den Ablauf von Daantjespersönlichen Beziehungen. Die Eifersucht gegenüber ihremFreund Ramon (Roeland Fernhout) liefert den ersten Anlaß: Derverratene Verrat des Tagebuchs erweist sich allerdings alsTäuschung und stellt nur den Petzer Martijn bloß.

Doch der penetrante Mann mit der Kamera hat letztendlich Erfolg.Sie spielt mit den naiven Objekten, macht sie zum Clown. Hinter demgemeinen Spiel und in den Super 8-Filmen, die Martijn mitbrachte,steckt allerdings ein gemeinsames Geheimnis aus der Kinderzeit. Waspassierte an Daantjes neuntem Geburtstag? Daantje entzieht sich biszum Schluß der Konfrontationen mit den alten Bildern. AberMartijn beharrt: "Ich bleibe. So, wie ich immer in deinem Kopfbleiben werde."

Nachdem Martijn alle Kontakte nach außen gekappte, begibtsich das Paar in seine Kindertage. Individualpsychologisch regressivzu Kinderspielen und tabukultur-geschichtlich hinter dasInzestverbot.

Die durchgehend subjektive Kamera ist kein einfacher Gag. Vielintensiver als bei den älteren filmhistorischen Verwandten"Peeping Tom" oder "Die Dame im See" provoziert "Zusje" Gedankenüber den Kamera-Blick und seine Macht: Die Verhältnisseändern sich, als Daantje die Kamera in die Hand nimmt. MartijnZuidewind ist eine Person, aber vor allem die subjektive Kamera, ausder schon der kleine Michael Myers seine Schwester in "Halloween"ermordete. So stellt es auch der Abspann klar, der unter den dreiNamen hinter Martijn (Martijn Zuidewind, Hugo Metsers III, Bert Pot)auch den Kameramann Bert Pot aufführt. (An "Die Dame im See"erinnert auch die Spiegel-Aufnahme Martijns mit Kamera im HotelTabu.)

So ist "Zusje" nicht nur eine Psychostory in sehr raffiniertemStil und mit intelligenten Mitteln. Es ist auch ein wichtiger Filmzum allgegenwärtigen Blick von Kameras oder der Liebe zurKamera. Trotzdem steckt viel Witz in diesem System, das nielangweilig wird: Nach partyfröhlichen Aufnahmen vom Wodkaglasschwanken die Bilder. Martijns Blackout fangen die Partygästemit eigenen Aufnahmen auf, die der Eindringling am verkaterten Morgenbeim Zurückspulen entdeckt. Der Vergleich von "privaten"Tagebuchaufzeichnungen und ebenso intimen Videoaufzeichnungen ist nureiner der tollen Entdeckungen, die sich dabei machen lassen.

Ganz aktuell beschäftigte sich auch der japanische "focus"mit dem Einfluß einer "nur beobachtenden Kamera": Der jungeHightech-Lauscher wird von einem TV-Team schließlich zum Mordgetrieben, womit der Live-Wahnsinn aber noch längst nichtbeendet ist.

Thematisch erinnert "Zusje" schnell an Inzest-Filme wie"Zementgarten" oder ClaireDenises Locarno-Gewinner"Nenette et Boni".Doch vor leichtfertigem Umgang mit dem großen Wort "Inzest"warnt "Zusje" und öffnet dadurch die panikverengten Augen.

Bemerkenswert ist Kim van Kooten, die eindrucksvolle Darstellerinder Daantje. Die junge, hübsche Frau verblüfft mit vielenGesichtern, dem der selbständigen Frau ebenso wie dem deskleinen Mädchens. Einen Mini-Gastauftritt bietet der Alt-RockerHerman Brood.

"Zusje" gehört zu einer Reihe frischer, jungerniederländische Filme. Nach Alex van Warmerdams Felix-Erfolgen"Abel" und "DeNoorderlingen" sowie dem reifen Oscar-Sieger"Antonia". Stehen uns einigevor allem formal interessante Junge Holländer ins Haus:Warmerdams "De jurk" (Das Kleid) verfolgt den Stoff eines Stoffes vonder Baumwollflocke bis zum Schredder. "Wasted" (Naar de klote)stürzt sich thematisch und optisch in einen Techno- undEcstasy-Strudel.

PS: Übrigens lohnt sogar das Warten auf das Ende desAbspanns. Selbst in dem beiläufigen Flohmarktgespräch umden Verkauf von Videotapes, die mit "Zusje" beschrieben sind,verbergen sich einige kluge filmtheoretische Gedanken.


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

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