Topsy-Turvy

GB 1999. Produktion: Thin Man Films Ltd., The Greenlight Fund. Produzenten: Simon Channing-Williams. Regie: Mike Leigh. Buch: Mike Leigh. Kamera: Dick Pope. Musik: Carl Davis, nach den Kompositionen von Arthur Sullivan. Schnitt: . Darsteller: Jim Broadbent (W.S. Gilbert), Allan Corduner (Arthur Sullivan), Lesley Manville (Lucy Gilbert), Eleanor David (Fanny Ronalds), Ron Cook (Richard D'Oyly Carte), Timothy Spall (Richard Temple), Kevin McKidd (Lely), Martin Savage (Grossmith), Shirley Henderson (Leonora Braham), Jessie Bond (Dorothy Atkinson), Wendy Nottingham (Helen Lenoir). 160 Min. FSK: 12. Verleih: BMG.

"Topsy-Turvy", der neue Mike Leigh, ist keineswegs "Nackt", wie der schwärzeste Film des Briten hieß. Der Historienfilm "Topsy-Turvy" lässt seine Bitterkeit nur ganz langsam durch aufwendige Kostüme und Kulissen sickern. Bei allem Spott und scharfem Sarkasmus ist "Topsy-Turvy" wohl bekleidet und vor allem wohl formuliert.

Der Komponist Arthur Sullivan und der Librettist William Gilbert brachten von 1871 bis 1896 eine Reihe sehr erfolgreicher Operetten auf Londoner Bühnen. Gilbert & Sullivan waren Könige der leichten und populären Unterhaltung, vielleicht mit dem Musical-König Andrew Lloyd Webber und seinem Texter Tim Rice zu vergleichen. "Topsy-Turvy" konzentriert sich auf einen Produktionszyklus von Januar 1884 bis März 1885, von der Premiere der "Princess Ida" bis zu der von "The Mikado" in ihrem Stammhaus, dem Savoy Theater.

Schlechte Kritiken zu "Princess Ida" lösen bei Sullivan künstlerischen Überdruß und Selbstzweifel aus: Er will nach 20 Jahren Leichtigkeit endlich eine ernste Oper, ein großes Werk schreiben. Der etwas einfältige wirkende Gilbert begreift erst nicht, schreibt noch so eine simple Komödie, doch Sullivan weist die brüsk zurück. Der "Produzent", der Direktor des Savoy Theaters D'Oyly Carte, drängt auf Erfüllung der Verträge, aber erst als Sullivan zufällig eine Japan-Ausstellung besucht, hat er die Inspiration für etwas Neues.
Im zweiten Teil wird die Entwicklung des japanischen Stücks "The Mikado" Schritt für Schritt verfolgt. Der Konflikt zwischen Gilbert und Sullivan tritt zurück, viele Beteiligte kommen mit ins Spiel, Sullivans Begeisterung steckt an und die Handlung gewinnt an Tempo. Bei den Sprechproben bügelt Gilbert Fehler mit unvergleichlich freundlichem Sarkasmus aus, die Schwierigkeiten der eitlen Schauspieler mit Kleidung und Korsett werden ebenso gemeistert wie die letzten Probleme vor der Premiere. Die Burleske einer Japan-Oper wird zum großen Erfolg.

Die New Yorker Filmkritiker wählten "Topsy-Turvy" zum Besten Film des Jahres 1999. Es gab Oscars für Kostüm-Design und Make Up. Weshalb er keinen Kinostart in Deutschland erlebte, bleibt ein Rätsel. Denn seine Reize sind vielfältig: Von den vielen eingängigen Liedern, über die üppige Ausstattung bis zu den geschliffenen Dialogen exzellenter Darsteller, die oft schon in anderen Leigh-Filmen zu sehen waren. Vor allem Jim Broadbent beeindruckt mit seinem prägnanten Gesicht als Gilbert. (Die Rolle nimmt die des Theaterdirektors in "Moulin Rouge" auf verblüffende Weise vorweg.) Ein Film über das Theater am Theater ist selbstverständlich auch immer eine Reflektion über das Entstehen eines Werkes, sei es Bühne oder Film. Das wird spätesten klar, wenn bei den Bühnen-Proben über "Decoupage" - also Schnitt - gesprochen wird. "Topsy-Turvy" enthält wie John Turturros "Illuminata" oder der geniale, ebenso völlig übersehene "Cradle will Rock" von Tim Robbins eine selbstreflexive Ebene der Regisseure, die nicht zufällig auch immer Autoren dieser Filme sind. Mike Leigh bringt zudem seine eigene Erfahrung als Bühnenregisseur mit.

Leigh verpackt in die Kulissen eine Betrachtung der historischen Epoche, die sich mit heutigen Ansichten vermischt. ÝErste Telefone signalisieren ebenso wie elektrische Türklingeln und Füller mit Tintenreservoir eine rasche Modernisierung. Gilberts verschrobener Vater äußert das immer wiederkehrende Lamento: Telefon zerstört die Schriftkultur. Aus der hübschen Verpackung taucht immer wieder das Leiden an der typisch britischen Zurückhaltung auf. Der Streit zwischen Gilbert und Sullivan eskaliert erst nach vielen hervor gepressten Höflichkeiten. So erscheint auch der Film: Das Bittere sickert langsam durch die Kulissen, die vordergründige Misanthropie aus "Nackt" ist hier verhüllt, denn auch in "Topsy-Turvy" werden die Menschen bloßgestellt. Leigh wartet bis zur letzten Szene, um Gilberts einsames Leiden in der Ehe zu offenbaren. So entmenschlicht die Härte im Blick Leighs letztendlich nicht, sie führt uns näher zu den Menschen.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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