56. Internationale Filmfestival von Locarno (6.-16. August)

Musikpasssagen am Lago Maggiore

Eine Menge Musik, mehr Filme als je zuvor und das Problem mit der A-Klasse. Locarno erlebte ein außergewöhnliches Festivaljahr 2003 - nicht nur wegen der Piazza-Abende ohne Regenunterbrechung.

Mit 440 Titeln im Katalog stellte das 56. Internationale Filmfestival von Locarno (6.-16. August)
einen neuen Rekord auf. Ein üppiges und vielfältiges Angebot - für einige Grund zum meckern, für andere Anlass, sich in einzelnen Sektionen oder einfach querbeet hinzugeben. Angesichts dieser Fülle muss es dem Leser ebenso gehen wie den Festivalbesuchern: Aus jeder Programmsektion werden nur einzelne Höhepunkte angespielt.

Intro: All that Jazz!
Der Titel der Retrospektive konnte je nach Gusto als freudiger Ausruf oder als gequältes Stöhnen genommen werden: "All that Jazz!" Jazz war allgegenwärtig in der kurzzeitig vom Film okkupierten Touristenstadt am Lago Maggiore. Die Retrospektive mit über 110 Dokumentationen, echten und erfundenen Bio-Pics, klassischen Konzertaufnahmen vieler Jazzlegenden, alten, sagenhaften Animationsfilmen und unterschiedlichen Spielfilmen war Augen- und Ohrenschmaus für die Fans. (Ein ausführlicher Bericht folgt in Heft xxx.)

Vielleicht hätte man auch die Retro mit der berühmten Dokumentation "Jazz on a Summer's Day" in einer Locarno-Nacht auf die Piazza bringen können. Denn deren Programmierung war erschreckend schwach. Mit nur wenig Publikumsfilmen, einem Experiment und Hommagen, die wie Lückenbüßer wirkten, enttäuscht Locarno ausgerechnet bei seiner Hauptattraktion.

Leitmotiv: Die Piazza
Im malerischen und atmosphärisch aufgeladenen Open Air-Forum der Piazza Grande schaut man sich gerne noch Filme an, für die man sich nicht mehr in ein überfülltes, überhitztes Kino quetschen würde. Locarno hat Abend für Abend den einzigartigen Luxus eines Kinos für 9000 Menschen. Zur Vorstellung der "Calender Girls" gab es hinten auf dem Platz Rangeleien um zu wenige Sitzplätze, während vorne weiter Karten verkauft wurden. (Der urlaubende Bundeskanzler Schröder hatte einen Platz sicher und sorgte für ein wenig Prominenz.) Die Sozial-Komödie über reife britische Hausfrauen, die sich für einen guten Zweck als nackte "Calender Girls" enthüllen, war ein großer Lacherfolg.

In einem gewagten Experiment präsentierte Locarno das filmische Gesamtkunstwerk "Cremaster" von Matthew Barney. Der 1967 geborene Amerikaner gehört zu den angesagtesten Künstlern unserer Zeit. "Cremaster III" ist Endpunkt des fünfteiligen "Cremaster Cycle" und wurde auf einige tausend, wenig ahnende Zuschauer der Piazza Grande losgelassen. Ein Experiment, denn die Cremaster-Filme gab es bislang nur in Museen. Nun kroch in der freien Wildbahn Locarnos eine Frau aus der Erde und wurde in ein altes Auto geschleppt, welches daraufhin andere Wagen extrem brutal und endlos lang verschrotten. Matthew Barney selbst ist in einer seiner vielen Rollen als Maurer zu sehen, der derweil einen fein holzvertäfelten Aufzug Eimer für Eimer mit Zement füllt. Barneys Konzept, räumliche Kunst mit Erzählung zu verbinden, ist sehr weit vom üblichen Erzählkino entfernt. In Locarno entwickelten sich schnell lautstarke Duelle zwischen Fans und genervten Piazza-Anhängern. "Cremaster III" passt in ein mutiges Filmfestival, das Grenzen auslotet.

Ansonsten sind kaum weitere Highlights zu vermelden. Das alte Venedig-Lamento war allerdings mehr denn je zu hören: Einen Film hatte Venedig aus dem Wettbewerb weggeschnappt. Neil La Butes "The Shape of Things" musste ein ungeduldiger griechischer Verleiher noch vor dem Festival raus bringen. Was in Kombination mit dem frisch erworbenen A-Status bedeutete, dass er nicht auf der Piazza laufen durfte. So von nachgespielter Qualität "geschützt", litt das Piazza-Programm merklich. Festival-Direktorin Irene Bignardi dachte laut und öffentlich über den Sinn dieser Regelungen nach.

Refrain: Der Wettbewerb

Das Filmfestival von Locarno erwies sich erneut als gutes Pflaster für deutsche Koproduktionen: Mit "Khamosh Pani" (Stilles Wasser) gewann ein pakistanisch, französisch, deutscher Film den Hauptpreis des Wettbewerbs und "Das Wunder von Bern" siegte in der Publikumsgunst auf der Piazza Grande. Nachdem der Goldene Leopard 2002 an "Das Verlangen" von Iain Dilthey ging, konnte der in Cannes so vernachlässigte deutsche Film in der Schweiz Wunden lecken. Mit eigener Regie und ureigener Geschichte beim Fußball-Familien-Film "Das Wunder von Bern", sowie mit finanzieller und kreativer Beteiligung an Preisträgern.

Der mit 90.000 Schweizer Franken (60.000 ¤) dotierte Goldene Leopard ging an eine Geschichte aus dem Punjab. Im Jahr 1979 wandelt sich Pakistan unter General Zia ul-Haq zum islamischen Staat. Der 18-jährige Salim folgt religiösen Extremisten und erkennt erst spät, dass seine Mutter Aischa zu der Glaubensgemeinschaft der Sikh gehörte, die bei der Staatsgründung 1947 brutal verfolgt und aus dem Dorf vertrieben wurde. Ein Pogrom droht sich nun zu wiederholen ...

Regisseurin Sabiha Sumar studierte in den USA. Sie möchte die Zuschauer für die Lage der Frauen sensibilisieren und die pakistanische Filmkultur beleben, die nach eigenen Angaben in den Jahren der Islamisierung unter dem Regime Zia (1977-88) praktisch ausgelöscht wurde.

Auch der Spezialpreis der Jury (30.000 Sfr) ging an eine deutsche Koproduktion: "Maria" erzählt von einer Mutter mit sieben Kindern, die im Rumänien der freien Marktwirtschaft verzweifelt zu überleben sucht. Das düstere Drama von Calin Netzer finanzierten Produzenten aus Rumänien, Deutschland und Frankreich. Zwei Leoparden für die Besten Darsteller gingen an "Maria" - für Serban Ionescu und Diana Dumabraya als Maria. Letztere teilt sich diesen diesjährigen "Mutter-Preis" mit Holly Hunter, die in "Thirteen" die amerikanische Mutter einer 13-Jährigen spielt, Ýund mit Sabiha Sumar, die Mutter Aischa im Siegerfilm.

Mit 19 Filmen aus 16 Ländern zeigte Locarno seinem Ruf gemäß ein Spektrum des Weltkinos mit Bildern aus Pakistan, Kasachstan, Argentinien, Indien, dem Iran, Österreich, Rumänien ... Die Varianz wird von den Preisen jedoch nicht gespiegelt. Während Politisches im pakistanischen und Soziales im rumänischen Beitrag gewürdigt sind, blieb innovative Filmkunst unbeachtet. Nur die Jury der internationalen Filmkritik (FIPRESCI) hatte ein Auge für den einzig interessanten Film in dieser Hinsicht: Der bolivianische "Dependencia Sexual" von Rogrigo Bellott erhielt den FIPRESCI-Preis "für die mutige Untersuchung des Machismo mit konsequenter Verwendung des Split-Screens und innovativer digitaler Kameraarbeit." Bellott verfolgt die Wege von fünf Jugendlichen, schafft Verbindungen durch die Aufteilung des Bildes und bricht so den üblichen Monolog der Narration auf. Vor diesem Erstling, den er mit 23 Jahren realisierte, erhielt er mehrere Kunstpreise.

Auch der absolute Publikumsliebling im Wettbewerb ging leer aus: Das tief bewegende Meisterwerk "Bom, Yeoreum, Gaeul, Gyeowool, Geurigo, Bom" (ebenfalls eine deutsche Koproduktion von Pandora aus Köln) zeigt in fünf Episoden um einen buddhistischen Mönch, dessen Hausfloß wunderbar abgeschieden in einem einsamen See treibt, die Jahreszeiten des Lebens. Bemerkenswert an diesem Film aus Korea ist der Bruch mit dem Trend der jungen, wilden Koreaner, den dieser sehr ruhige und nachdenkliche Beitrag darstellt. Man muss dabei unweigerlich an den anderen Welterfolg aus Korea denken, an "Warum Bodhi-Dharma in den Orient aufbrach?", der vor 14 Jahren in Locarno viele Preise gewann. Doch tobender Applaus, stehende Ovationen, hemmungslose Tränen sind vielleicht manchmal wertvoller und aussagekräftiger als hoch dotierte Juryentscheidungen.

Einen Sturm der Begeisterung erntete auch ein sichtlich gerührter Ken Loach, dem auf der Piazza Grande der Ehren-Leopard verliehen wurde. "Das Wunder von Bern" siegte auf der Piazza bei der einzigen demokratischen Wahl, dem Publikumspreis: Nach "Der bewegte Mann" nun eine bewegte Mannschaft von Regisseur Sönke Wortmann. "Das Wunder von Bern" spielt nationalen Mythos nach: Mit dem Sieg im WM-Finale 1954 war das geschundene Nachkriegs-Deutschland endlich "wieder wer". Wortmann verbindet elegant und inhaltsreich das historische Ereignis mit den Problemen einer Spätheimkehrer-Familie. Der halbwüchsige Matthias ist dabei Helfer des späteren (kürzlich verstorbenen) Siegschützen Helmut Rahn, kann aber erst nach Bern fahren, nachdem die Probleme mit seinem verbitterten Vater (Fußballfan Peter Lohmeyer spielt mit seinen Sohn) geklärt sind. Das angenehm pathetische "Wunder" ist gelungener Retro-Spaß für alle und zeigt reichlich Details für die Fans. "Das Wunder" war auch für die Filmstiftung NRW Grund zum feiern, deren Beteiligungen in Locarno nur noch von den 19 (!) ARTE-Koproduktionen übertroffen wurden. Die Rolle von ARTE im Bereich des Qualitätskinos war auch in Locarno wieder beeindruckend.

Spannendes Solo: Seidl
Unter den Beiträgen des "Video-Wettbewerbs" irritierte Ulrich Seidl ("Hundstage") mit "Jesus, du weißt" erneut: Seine Kamera ist der Beichtstuhl für sechs Gläubige unterschiedlichen Alters, die eine grundnaives Gottvertrauen eint. Der Wiener löst mit seiner Dokumentation im Grenzbereich erneut - ähnlich wie mit "Models" - Staunen und Fragen aus: Kann so ein kindliches Zwiegespräch mit Jesus in der heutigen Zeit noch wahr sein? Und darf man diese Menschen dann so bloßstellen?

Barbara Albert wendet in "Böse Zellen" die Chaostheorie auf den Alltag ihrer Figuren an, lässt den Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen, der wiederum den Absturz eines Flugzeugs nach sich zieht. Nur eine 24-Jährige überlebt. Sie lebt später in einer kleinen österreichischen Stadt. Die verschiedenen Lebensstränge ihres sozialen Umfelds durchdringen sich. Die Österreicherin Albert siedelt sich in ihrem zweiten Film zwischen ihren "Kollegen der Pathologie, Michael Haneke und Ulrich Seidl" an. Bemerkenswert war vor allem, wie anerkannt und erwartet Albert in Locarno ist, das bereits ihren "Nordrand" präsentierte.

Ansonsten reihenweise engagierte Sektionen hier und da: Regisseure aus Kuba, "Menschenrechts-Filme", Kurzfilme aus Skandinavien, dazu die Klassiker Kritikerwoche und Cineastes du present. Eine klare Trennung in Film- und Videoprogramm fiel angenehm auf. Dieses Bild eines enormen Angebots entstand aber auch, weil die vorbestimmten Höhepunkte fehlten: Von der Papierform her war Venedig dieses Jahr das reizvollere Angebot und auch George Clooney war wieder nicht da, obwohl er doch ein Häuschen am nahe liegenden Comer See hat. Diese scherzhafte Phrase steht für die Erkenntnis, dass Locarno nicht zu den ganz großen Festivals gehört - unabhängig von der Begeisterung vor Ort.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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