|
Das goldene Absperrgitter
Von Günter H. Jekubzik
Eine Jury aus gequälten, gequetschten und erniedrigten Festivalbesuchern verlieh den diesjährigen Cannes-Hauptpreis, das Goldene Absperrgitter an die Hardliner der Festivalorganisation. Besonders die Szene "Stundenlanges Warten und dann doch nicht in den Film kommen", das gekonnt herrische Kommandieren, die lustvolle Schikane und der Kasernenton erzielten auch dieses Jahr wieder besonders viele Aggressionen und Schimpfworte in mehr als zwanzig Sprachen. Die Raffinesse, mit der aus ein paar Absperrgittern professionelle Cineasten-Pferche gestaltet wurden, sucht seinesgleichen. Ein beteiligter Türwärter - einer der wahren Stars des Festivals - meinte zur Verleihung des Goldenen Absperrgitters: "Ich verstehe auch nicht, was hier vor sich geht, irgendwie bescheuert!"
So wurden die Verhältnisse in Cannes allgemein zum Medienthema und ließen philosophieren: Welches Volk revoltierte einst, um seinen Ständen Gleichheit zu verschaffen? Das können nicht die Franzosen gewesen sein! Die Rangordnungen in Cannes sind vielfältig wie beim Militär, hinter der zivilen Fassade beim Kampf um die Kinoplätze spielen sich blutige Rachephantasien ab. Hier geht der Blick nicht auf Schmuck, Kleidung oder sonstige Statussymbole. In Cannes zählt nur eines: Zeige mir welche Kartenfarbe du hast und ich lasse dich vielleicht irgendwann mal rein.
Aber Cannes ist auch ein herrliches Naturschauspiel: Hunderte Pinguine mit Frack und Fliege, die nachts auftauchen, sich im Scheinwerferlicht an der Treppe des Filmpalastes erwärmen und dann wieder im Dunkeln des Kinos verschwinden. Junge Frauen in obszöner Garderobe, die nur am Arm eines älteren Mannes hängen, um das Gewicht seines Portemonnaies auszubalancieren.
Und es gab ein paar Filme. Der Reihe nach: Die Goldene Palme erhielt "Die Ewigkeit und ein Tag" des Griechen Theo Angelopoulos. Der Titel antwortet auf die Frage "Wie lange ist das Morgen?" Der nächste Tag wird für den alten, kranken Dichter Alexander wohl sein letzter sein. Erinnerungen gehen zurück an einen Kindheitstag am Meer, an einen anderen mit seiner Frau. Derweil trifft Alexander (Bruno Ganz) in der Gegenwart auf einen albanischen Flüchtlingsjungen, rettet ihn vor Menschenhändlern und erlebt eine kurze, intensive Freundschaft. Alles ist Poesie in diesem besinnlichen Meisterwerk: Die sparsamen, gewichtigen Worte des Dichters, die schwebende Kamera mit ihrer intensiven Eleganz langer Sequenzen, die melancholischen Melodien von Eleni Karaindrou. Angelopoulos zeigt "Momente, die in der Nähe des Todes besondere Bedeutung erlangen."
Den Großen Preis der Jury erhielt "La Vita e bella" des italienischen Komikers Roberto Benigni und stellte (den Deutschen) eine schwierige Frage: Kann man ernsthaft über Sterben und (Über-) Leben im Konzentrationslager lachen? Der italienische Komiker Roberto Benigni inszenierte sich selbst als heldenhaften Clown im stürmisch bejubelten Wettbewerbsfilm "La vita è bella" - deutsch: Das Leben ist schön. In einer romantischen Liebesgeschichte erobert Guido (Benigni) mit vielen phantastischen Ideen das Lachen und das Herz der schönen Dora. Noch lacht der naive Schelm über Geschäftsschilder "Für Juden und Hunde verboten". Das sei eine persönliche Sache, erklärt er seinem kleinen Sohn Giosue, einige Kaufleute würde Chinesen und Känguruhs den Zutritt verwehren. Doch ausgerechnet am Geburtstag Giosues wird dieser mit seinem Vater und dessen Onkel von Deutschen abtransportiert. Um den Jungen nicht zu verängstigen, erzählt Guido, sie würden an einem Spiel teilnehmen, eine Art Ferienlager. Er verspricht seinem Sohn, sie würden sich "totlachen"!
Die Einfälle, mit denen Benigni die Absurdität der Konzentrationslager und der Vernichtung ins Alberne überführt, verdienten ihren Szenenapplaus. Was der italienische Komiker als "Das Monster" oder als Wi(e)dergeburt des "Rosaroten Panthers" an überdrehtem Klamauk verbrach, paßt jetzt in den fantastischen Zwischenraum von Romantik und Komik. So entspricht der Film einer Zeit, die sich von der direkten Erinnerung an den Holocaust verabschiedet.
Auch der Preis der Besten Inszenierung für das engagierte, aber keineswegs larmoyante Sozialdrama "My Name is Joe" von Ken Loach sowie der Drehbuchpreis für die intelligente und eigenwillige Geschichte von "Henry Fool" an Hal Hartley heben die Glanzpunkte dieses Cannes-Festivals hervor. Loachs erneuter Kameraeinsatz für die Arbeitslosen, Alkoholiker und Armen der britischen Gesellschaft überzeugt durch soziale Aufrichtigkeit. Bei Hal Hartleys "Henry Fool" muß man sich fragen, ob die Entwicklung des Müllkutschers Simon zum Nobelpreisgewinner für Literatur banaler und enttäuschend realistischer ausfällt als die Vorgänger "Simple Men", "Amateur" oder "Flirt"? Oder reflektieren die Ansichten von Simons radikalen Mentor Henry Fool auf intelligente Weise die Filmkunst im Allgemeinen und den eigenen Film im Speziellen?
Kindesmißbrauch Bei den hunderten Werken unterschiedlichster Stile und verschiedenster Nationen, die das Filmfestival präsentierte, drängte sich ein Thema ungewohnt deutlich auf: Mindestens fünf Filme in den Hauptsektionen von Cannes behandelten das Thema des Kindesmißbrauchs. Thomas Vinterbergs dänisches Familienfest "Festen" konfrontiert eine feierliche Gesellschaft mit der lange verdrängten Vergangenheit des 60-jährigen Familienoberhaupts Helge. Als erster Geburtstagsredner erzählt Sohn Christian trocken und freundlich, wie er und seine Schwester vom Vater mißbraucht wurden. Die Schwester brachte sich darauf um. Während der weiteren Feierlichkeiten versucht die heuchlerische Gesellschaft die immer deutlicher werdenden Anschuldigungen zu ignorieren. "Festen" schafft in der Abgeschlossenheit des Familienhotels eine unglaubliche Situation. Das Erschreckende wird im ungewöhnlichen Stil amüsant erzählt. Der Däne Vinterberg verfaßte mit drei weiteren Kollegen - u.a. Lars von Trier - das "Dogma", nach dem Filme nur mit begrenzten Mitteln realisiert werden dürfen.
Mit am wildesten gebärdeten sich der Däne Lars von Trier und seine "Idioten": Eine Gruppe junger Leute will "den Idiot in jedem selbst herauslassen", spielt in der Öffentlichkeit und in einem Landhaus außerhalb Kopenhagens behindert. Wenn seine Filme eine Moral hätten, dann würden die "Idioten" die Mißachtung von Behinderten bloßstellen, meint von Trier. Doch richtig ernstnehmen sollte man weder diese Aussage noch den mit kleinem Budget und viel Einsatz der Darsteller gedrehten Film.
Ganz anders schräg erzählt "Happiness", die tiefschwarze und grell satirische Familienkomödie aus den USA. Die drei Schwestern Jordan böten jede für sich Stoff für eine umwerfende Satire: Joy ist die Versagerin, die mit 30 Jahren weder Kerl noch Karriere hat. Helen ist als Autorin von erfundenen Vergewaltigungsgeschichten die Erfolgreiche und Bewunderte, wünscht sich aber einen Mann, der sie überhaupt nicht schätzt. Trish hat als Hausfrau und Mutter alles, was "frau" sich wünschen sollte, wenn nicht der umgängliche Gatte Bill auf kleine Jungs stehen würde. Das ganze nennt sich dann ironisch "Happiness" - Glück auf amerikanisch - und lief in der anspruchsvollsten Sektion Cannes, der dreißigjährigen Quinzaine des Réalisateurs. Todd Solondz hat nach "Welcome to the Dollhouse" erneut die amerikanische Familie mit schärfster Satire seziert. Hemmungs- und schamlos mixt er so ein Gegenmittel gegen Prüderie und Heuchelei, die den us-amerikanischen Film ansonsten beherrschen.
Insgesamt glänzte das Festival wieder als elitäre Veranstaltung, die bevorzugt in Cannes stattfindet, weil sich das halt wirklich nicht jeder leisten kann. So kann man die Geschäfte unter sich, im Circel der Besitzenden ausmachen. Das führt dann zu absurden Situationen, daß manche Filmverkäufer für den Auftritt in Cannes einiges mehr zahlen, als für die Produktion jeder ihrer Filme. Trotz Marketing-Overkill der großen Verleiher bietet sich das Mega-Festival für raffinierte Underdog-Aktionen an. Während im Palast als Abschlußfilm die 100 Millionen-Dollar-Produktion "Godzilla" klotzte, sind Touris und Kamerateams auf der Croisette dankbar für jede originelle Idee: Der Berliner Regisseur Michael Chauvistré radelte als Weihnachtsmann über den Boulevard und landete mit dieser Aktion prompt in den Festivalzeitungen. Zuvor pflasterte auf dem Weg ins Hotel regelmäßig mehrere Kilometer parkender Autos mit Einladungen zur Marktvorführung seines Films "Schau mich nicht so böse an" zu. Das große Geschäft lief dagegen gar nicht: Der "Marché International du Film", die gigantische Handelsmesse für Film aller Art, meldete katastrophale Einbrüche in Höhe zweistelliger Prozentzahlen. Nicht nur die asiatischen Filmverleiher und Fernsehanstalten kamen aufgrund ihrer Wirtschaftskrise fast pleite nach Cannes. Auch der Rest, darunter deutsche Einkäufer, waren extrem sparsam.
|
|
![]() |
![]() |
Rubriken
- Berlinale 2006 (13)
- Berlinale 2007 (11)
- Berlinale 2008 (4)
- Berlinale 2009 (11)
- Berlinale 2010 (14)
- Berlinale 2011 (14)
- Berlinale 2012 (17)
- Berlinale 2013 (3)
- Berlinale 2014 (6)
- Cannes 2006 (3)
- Festivals (61)
- Impressum (1)
- Kritiken (15)
- Kritiken GHJ (2209)
- Kritiken LT (524)
- Locarno 2005 (5)
- Locarno 2010 (4)
Über
filmtabs
- Das erste Online Filmmagazin Deutschlands, seit 1996 - Über 3000 Artikel, Kritiken und Festivalberichte.
Es gibt 2,811 Artikel und 127 Kommentare.
Aktuell
- 26.11 The Green Prince
- 26.11 Der Koch
- 26.11 Auf das Leben!
- 26.11 Das Verschwinden der Eleanor Rigby
- 25.11 The Zero Theorem
- 24.11 Das Verschwinden der Eleanor Rigby
- 24.11 The Green Prince
- 24.11 The Zero Theorem
- 24.11 Kill the Boss 2
- 19.11 Die Legende der Prinzessin Kaguya
- 19.11 Keine gute Tat
- 18.11 Höhere Gewalt (2014)
- 18.11 Ein Schotte macht noch keinen Sommer
- 17.11 Die Tribute von Panem - Mockingjay Teil 1
- 17.11 Bocksprünge