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49. Internationales Filmfestival Locarno

Vorbericht

Abschluß(kurz)

Ehrenleopard für Werner Schroeter

Das Festival (lang)

Neuer internationaler Wettbewerb

FILME:

 

Miel et cendres / Nadia Fares

Goldener Leopard für:

Nénette et Boni / Claire Denis

Silberner Leopard für:

Floating Life / Clara Law

Silberner Leopard (Erstling) für:

Marian / Petr Vaclav

 

Seven Servants / Daryush Shokof

Ehrenleopard:

Abfallprodukte der Liebe / Werner Schroeter

Nanni Moretti und

La seconda volta / Mimmo Calopresti

Bronzener Leopard für:

Mohsen Makhmalbaf mit:
Ein Moment der Unschuld

Woche der Kritik:

Augenblicke im Paradies / Richard Dindo

Cinéastes du présent:

La rencontre / Alain Cavalier

 

The Present / Robert Frank

 

The Arena of Murder / Amos Gitaï

Schweizer Perspektiven

 

das war's .... und:

Locarno 97 mit Eastwood

Die Suche nach "dem Neuen" beschäftigte Locarno im jungen Wettbewerb schon immer - und im gesamten Programm seit Marco Müller vor vier Jahren Festivaldirektor wurde. Ein Jahr vor der 50. Edition, sorgte das Festival nun mit grundlegenden Veränderungen für Aufsehen. Symbolisch für den Umbau thronte ein Kran während der Festivaltage im August über der Leinwand der Piazza Grande.

Der internationale Wettbewerb hat sich geöffnet, ist mit seinen publikumsträchtigen Filmen hinaus auf die Piazza Grande gegangen. Nach einem schon in den Siebzigern praktizierten Konzept wurden dort geeignete Wettbewerbsfilme vorgeführt. Dieser Schritt war eine Bereicherung für das mit Sternenhimmel und Atmosphäre schon verwöhnte Open Air-Kino. Die zukünftigen Sieger Locarnos paßten gut zum frisch gekürten "Secrets and Lies" aus Cannes. Die zweite Neuerung, daßnun neben den bisherigen Erst- und Zweitwerken auch bereits etablierte Filmemacher mit frischen Ideen ("neue Filmemacher und neue Cinematographien") an den Start dürfen, erhöht die Bedeutung des Festivals. Diesjährig brachte die Änderung die Französin Claire Denis mit "Nénette et Boni" und den 62-jährigen, vielfach ausgezeichneten Tschechen Jan Svankmajer mit einer skurril erotischen Komödie ("Spiklenci Slasti", Verschwörer der Lust) nach Locarno.

Erkennbar war der Unterschied zwischen "jung" und "etabliert" jedoch selten. Ausgereift und stimmig zeigten sich beinahe alle Filme, die auf der Piazza liefen. Der Rest des Wettbewerbs, tagsüber im Mehrzwecksaal Fevi gezeigt, bot größtenteils Talentshow: Mal eine interessante Story, dann ein Werkstattprojekt aus San Francisco auf hochkopiertem Video ("Chalk" von Rob Nilsson), die italienische Räuberballade des gelehrigen Straub/Huillet-Schülers Paolo Benvenuti ("Tiburzi"), dann faszinierende Schwarzweiß-Aufnahmen, die handlungsarm eine vergangene Zeitstimmung der USA aufkommen lassen ("Color of a brisk and leaping day" von Christopher Münch).
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Zu den Ausnahmen zählte "Miel et cendres" von Nadia Fares. Die in der Schweiz mit einem ägyptisch-schweizer Elternpaar geborene, in den USA ausgebildete Regisseurin verfolgt in ihrem Erstling Schicksale nordafrikanischer Frauen. Leila flieht vor den Schlägen des Vaters; das Studium mußsie durch Prostitution finanzieren. Die Studentin Amina heiratete ihren Professor; nach Jahren der Ehe schlägt er sie krankenhausreif. Bei der emanzipierten, selbständigen Ärztin Naima laufen die episodisch erzählten, detailliert lebendigen Geschichten zusammen. Ein "Frauenfilm", der von der weiblich dominierten Hauptjury übersehen wurde.
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Nénette et Boni

Den Goldenen Leoparden erhielt "Nénette et Boni" von der Französin Claire Denis. Die ehemalige Assistentin von Wenders und Rivette holte Thema und Team der TV-Produktion "US Go Home" fürs Kino wieder zusammen: Bruder Boni und Schwester Nénette fauchen sich wie Hund und Katze an. Nénette lebte nach der Trennung beim Vater, Boni kümmerte sich um die sterbende Mutter und verzeiht der kleinen Schwester das damalige Desinteresse nicht. Erst das Wissen um Nénettes Schwangerschaft ändert Bonis aggressive Ablehnung. Allerdings will das sehr junge Mädchen kein Kind aufziehen. "Nénette et Boni" lebt von der leichten, beiläufigen Erzählweise, die mit originellen atmosphärischen Inserts genauso von Marseille handelt wie von seinen jungen Menschen. Zwei Darsteller aus dem Film erhielten Bronzene Leoparden. Grégoire Colin als Boni und Valeria Bruni-Tedeschi, die seine ausufernden erotischen Phantasien verkörpert.
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Leben zwischen den Kulturen

Silberne Leoparden gibt es in der neuen Wettbewerbsformel für beide Kategorien der Teilnehmer. Den für das "Neue Kino" erhielt Clara Laws Exodusstory einer Hongkong-Familie. "Floating Life" erzählt vom schweren Stand der Traditionen in neuen Heimaten. Und - ohne es deutlich auszusprechen - von den problematischen Perspektiven für die Menschen Hongkongs vor der Übergabe der Kronkolonie an China. Die Töchter der Chans aus Hongkong assimilieren sich nur mühsam in ihrer Diaspora. Sei es Australien oder Deutschland. Hinter der komödiantischen Fassade eines überdrehten, sehr erfolgreichen Lebens kristallisiert sich verzweifelte Einsamkeit heraus. Aber auch der älteste Sohn verliert im rasenden Geschäftsleben der Stadt den Bezug zur Tradition.

Clara Law zog mit ihrem Ko-Autor und Partner Eddie L.C. Fong vor dieser Produktion nach Australien. Stilistisch arbeitete sie konventioneller als in "Autumn Moon", für den sie 1992 einen Goldenen Leoparden erhielt. Damals entstand am Lago Maggiore auch die Idee zu "Floating Life". Der Titel bezeichnet das fließende Leben in unserer multikulturellen Welt, von einer Sphäre zur nächsten: "Dies wird das wichtigste Phänomen des 21. Jahrhunderts. Jeder hat Freunde aus anderen Kulturkreisen. Bei den Dreharbeiten waren wir ein Team aus 10 verschiedenen ethnischen Gruppen." (Clara Law)
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In der Abteilung für erste und zweite Werke wurde der Tscheche Petr Vaclav für "Marian" mit dem zweiten Silbernen Leoparden beschenkt. Das düstere Leben eines Heiminsassen in der Tschechoslowakei war allerdings zu vorbestimmt, um interessieren zu können. Die Hauptfigur erscheint schon in frühester Kindheit zu deformiert, als daßMitleid für ein Opfer aufgebracht wird. Außergewöhnlich und politisch ist das Schicksalsdrama höchstens durch Marians Herkunft aus einer Zigeunerfamilie.
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Premieren aus Deutschland

Der Wettbewerbsabschlußauf der Piazza mit der deutschen Produktion "Seven Servants" enttäuschte. Ausgehend von einem Traum und einem Bild des Malers Daryush Shokof inszenierte der Autor Shokof die letzten zehn Tage eines Philanthropen. Junge Männer aus verschieden Erdteilen stecken ihre Finger in seine Ohren und Nasenlöcher. Er erlebt dauerhafte körperliche Vereinigung mit ihnen. Eine originelle Idee, schöne Kostüme, Ausstattungen und Bilder, ein Anthony Quinn als respektabler Hauptdarsteller. Doch es fehlt dem schönen, dünnen Bilderbogen der Geist, der beispielsweise die Werke eines Greenaways bereichert.
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Der diesjährige, achte Ehren-Leopard für ein Gesamtwerk ging an Werner Schroeter. Damit bewahrt Locarno seine Kontinuität, "schwierige" Künstler und Werke ins Rampenlicht zu stellen. Vor Schroeter erhielten Manoel de Oliveira, Kira Muratova und Jean-Luc Godard einen Ehren-Leoparden. Auch die diesjährige Retrospektive für den ägyptischen Regisseur Youssef Chahine machte dessen Filme zugänglicher. Nach "Malina", Schroeters letztem Film, dauerte es fünf Jahre bis "Abfallprodukte der Liebe" Premiere feierte. Isabelle Huppert ist erneut dabei, doch spielt sie jetzt nur eine kleine Rolle neben den großen Diven, die Schroeter versammelte. Madame Cerquetti, Madame Mödl und Madame Gorr - wie Schroeter sie nennt - beeindruckten ihn seit der Jugend. Jetzt bieten sie in dekorativem Ambiente "Abfallprodukte der Liebe", denn das ist die Musik und das sind alle Künste nach Schroeter. Dazu unterhalten sich die Sänger und Sängerinnen eines gekünstelten und doch familiären Liederabends über Gefühle und Tod. Schroeters nächster Film wird eine Dokumentation über Maria Callas sein.
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Das Publikum der Piazza Grande wählte "Microcosmos" zu ihrem Favoriten. Umjubelter Star bei diesem Festival, das seine Gäste nicht in den Himmel hebt, sondern am Nebentisch des Cafés setzt, war Nanni Moretti. Der Publikumsliebling war entsprechend seiner vielseitigen Tätigkeiten als Regisseur und Darsteller eines Kurzfilms über sein eigenes Kinos in Rom ("Il giorno della prima di 'Close Up'"), als Produzent und Darsteller in "La seconda volta" sowie als Präsentator der Sieger seines Sacher-Festivals für Kurzfilme vertreten.
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"La seconda volta" ist die zufällige Begegnung zweier Menschen, die sich bereits vor zwölf Jahren trafen - genauer: damals traf die linke Attentäterin Lisa Venturi (Valeria Bruni-Tedeschi) den leitenden Fiat-Angestellten Alberto Sajevo (Nanni Moretti) mit einer Kugel in den Kopf. Täterin und Opfer müssen sich etwas sagen, da ihr Leben seit dem Attentat untrennbar verbunden ist. Doch die Tat machte beide zu verhaltenen, stillen Charakteren. Zeitweise scheint es, als könnte eine Art Liebe aufkommen, die auch Opfer und Folterer verbindet. Doch die Situation ist nicht auflösbar. Sajevo geht einer ungewissen Operation entgegen, Lisa Venturi zieht sich in die Haft zurück. Regisseur Mimmo Calopresti gelang es mit zwei hervorragenden Darstellern die drückende Stimmung und die fatale Verbindung spürbar zu machen.
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Die einzigartige, faszinierende Situation von "La seconda volta" (der schon im Wettbewerb von Cannes lief) tauchte ebenso im iranischen Wettbewerbsbeitrag "Ein Moment der Unschuld" (Nun va goldun) auf: Zwei Jahrzehnte nach dem politisch motivieren Attentat treffen Opfer und Täter für einen Film über dieses Ereignis wieder aufeinander. Während der Polizist den jungen Darsteller seiner Rolle zu der entscheidenden Szene führt, weist der Regisseur Mohsen Makhmalbaf (im Film!) sein eigenes alter ego ein. Doch es gibt mindestens zwei verschiedene Versionen. Der Posten bei einem hohen Schah-Militär wartete mit einer Blume auf ein unbekanntes Mädchen. Der militante Attentäter schickte seine eingeweihte Verwandte nur zur Ablenkung täglich zum Polizisten. Immer wieder scheitert die entscheidende Szene. Bis zum Schlußbild, in dem die jungen Darsteller statt Messer und Pistole Brot und Blume (wie der Originaltitel lautet) zücken. Makhmalbaf zeigt spielerisch mit dem ganz speziellen iranischen "Film im Film"-Realismus von (siehe auch Kiarostamis "Quer durch den Olivenhain"), daßdie alten Ideale der nächsten Generation nicht mehr verständlich sind. Die Jury verlieh ihm einen Bronzenen Leoparden ausdrücklich nicht für diesen Film, sondern für sein Gesamtwerk.
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Kritikerwoche

In der hervorragenden Kritikerwoche, die diesjährig allerdings auch schwächere Beiträge enthielt, verfolgte Richard Dindo - nach Che oder Arthur Rimbaud - erneut die Spuren einer von ihm verehrten Person. "Augenblicke im Paradies" begleitet den weißen südafrikanischen Autor Breyten Breytenbach auf einer Erinnerungsreise durch sein Heimatland. Die Stätten der Kindheit, der Verfolgung und der Inhaftierung, begleitet wiederum durch Texte Breytenbachs - reich an Poesie und Politik. Eine starke, sympathische Persönlichkeit stellt sich der Wehmut über eine verlorene Heimat. Denn an der politischen Erneuerung beteiligte sich Breytenbach nicht mehr, er blieb in der neuen Heimat, dem Exil.
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Die alten Männer und die Videos

Cinéastes du présent, die nach neuen Ausdrucksformen suchende, umfangreichste Sektion, war französisch bestimmt, wie auch sonst ein Viertel (!) aller Filme aus Frankreich kamen. Das lag nicht nur am Kurzfilmprogramm "Leoparden von Morgen", das in diesem Jahr den ganz jungen französische Film vorgestellte. "Cineasten von heute" verzeichnete bei bekannten Regisseuren einen erschreckenden Rückzug ins private Video. Alain Cavalier nahm für "La rencontre" den Austausch mit einer Lebenspartnerin auf. Bewegungslose Details bilden ein Bilderrätsel. Allein eine kleine Klaviermelodie in Vor- und Abspann. Liebesdinge, Lebensdetails. Keine Gesichter, nur Stimmen. Cavalier bietet keine Körpern, nur Abbilder von Seelen. Ein kindisches Alterswerk, das sich mit HI-8 der üblichen Planung verweigert.
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"Jetzt kann ich filmen, aber ich weißnicht was." Hemmungs- und kunstlos dokumentierte Robert Frank mit "The Present" einen aggressiven Ausbruch der Sinnleere in seinem Leben. In seiner Einsamkeit zwang er sich, jeden Tag irgend etwas zu filmen. Ein deprimierendes Tage-, ein zu schnell umgeschlagenes Fotobuch, des einst gefeierten Fotografen Robert Frank.
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Amos Gitaïkehrte nach dem Attentat auf Itzhak Rabin nach Israel, der realen und der übertragenen Arena des Mordes, zurück. In "The arena of murder" spricht er mit Lea Rabin, der Witwe des Ermordeten, nimmt junge Friedens-Rocker auf, versucht einen Wandel zu dokumentieren. Die Suche nach Erklärungen, nach Perspektiven für die israelische Gesellschaft ist auch Selbstreflexion. Wie schon 1973 durch den Krieg und einen traumatischen AbschußGitaïs Wendung zu Film ausgelöst wurde, führt das Attentat zu einem stilistischen Umdenken: "Die Form interessiert mich wenig." Filmemacher, die gute, hervorragende Inszenierungen geleistet haben, verlassen sich bei ihren Suchen auf das Gefühl und eine kleine Kamera in der Hand. Sie dokumentieren Orientierungslosigkeit.
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Schweizer Festivalstreit In einer weiteren Neuerung des Festivals schnappten Müllers Leoparden nach den einheimischen Schweizer Filmen: "Schweizer Perspektiven", ein kleiner, aber mit 100.000 Sfr (ca. 120.000 DM) hochdotierter Wettbewerb macht Solothurn Konkurrenz, wo der nationale Vergleich bislang beheimatet ist. Finanziell mag die Aussicht auf einen Gewinn der "Schweizer Perspektiven" sogar attraktiver sein als ein nur mit 30.000 Sfr dotierter Goldener Leopard. Bei diesem Hauptthema des Festivals warnte selbst die Bundesrätin Ruth Dreifuss (der Bund ist größter Finanzier des Festivals) vor einer Bedrohung der breiten Schweizer Festivallandschaft. Wie sehr dieser Schweizer Wettbewerb Nyon und Solothurn einschränkt, wird sich erst im nächsten Jahr zeigen, wenn die Macher neuer Schweizer Filme ihre Entscheidung getroffen haben.
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Locarno '96 waren wieder zehn konzentrierte Tage mit Filmen, die viel verlangen, aber meist auch viel geben. Nur eins kaum: einfache, gängige Unterhaltung. Es bleibt zu hoffen, daßdiese spannende Entdeckungsreise abseits vom Mainstream Resonanz findet. Insgesamt ist das Festival von Locarno bei Presseeinrichtungen und -vorstellungen professioneller geworden. Bei der Abschlußveranstaltung gab Marco Müller eine Preview auf das nächste, das 50. Festival in Locarno: Die Retrospektive will Clint Eastwoods komplettes Werk als Schauspieler, Regisseur und Produzent zeigen. Vielleicht spielt er dann auch einige seiner Kompositionen selbst am Piano des Grand Hotel beim nächtlichen Festivalausklang.
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Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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