FILME: | |
| |
Goldener Leopard für: | |
Silberner Leopard für: | |
Silberner Leopard (Erstling) für: | |
| |
Ehrenleopard: | |
Nanni Moretti und | |
Bronzener Leopard für: | |
Woche der Kritik: | |
| |
| |
| |
Die Suche nach "dem Neuen" beschäftigte Locarno im jungen Wettbewerb schon immer - und im gesamten Programm seit Marco Müller vor vier Jahren Festivaldirektor wurde. Ein Jahr vor der 50. Edition, sorgte das Festival nun mit grundlegenden Veränderungen für Aufsehen. Symbolisch für den Umbau thronte ein Kran während der Festivaltage im August über der Leinwand der Piazza Grande.
Der internationale Wettbewerb hat sich geöffnet, ist mit seinen publikumsträchtigen Filmen hinaus auf die Piazza Grande gegangen. Nach einem schon in den Siebzigern praktizierten Konzept wurden dort geeignete Wettbewerbsfilme vorgeführt. Dieser Schritt war eine Bereicherung für das mit Sternenhimmel und Atmosphäre schon verwöhnte Open Air-Kino. Die zukünftigen Sieger Locarnos paßten gut zum frisch gekürten "Secrets and Lies" aus Cannes. Die zweite Neuerung, daßnun neben den bisherigen Erst- und Zweitwerken auch bereits etablierte Filmemacher mit frischen Ideen ("neue Filmemacher und neue Cinematographien") an den Start dürfen, erhöht die Bedeutung des Festivals. Diesjährig brachte die Änderung die Französin Claire Denis mit "Nénette et Boni" und den 62-jährigen, vielfach ausgezeichneten Tschechen Jan Svankmajer mit einer skurril erotischen Komödie ("Spiklenci Slasti", Verschwörer der Lust) nach Locarno.
Erkennbar war der Unterschied zwischen "jung" und "etabliert"
jedoch selten. Ausgereift und stimmig zeigten sich beinahe alle
Filme, die auf der Piazza liefen. Der Rest des Wettbewerbs,
tagsüber im Mehrzwecksaal Fevi gezeigt, bot
größtenteils Talentshow: Mal eine interessante Story, dann
ein Werkstattprojekt aus San Francisco auf hochkopiertem Video
("Chalk" von Rob Nilsson), die italienische Räuberballade des
gelehrigen Straub/Huillet-Schülers Paolo Benvenuti ("Tiburzi"),
dann faszinierende Schwarzweiß-Aufnahmen, die handlungsarm eine
vergangene Zeitstimmung der USA aufkommen lassen ("Color of a brisk
and leaping day" von Christopher Münch).
zurück
Zu den Ausnahmen zählte "Miel et cendres"
von Nadia Fares. Die in der Schweiz mit einem
ägyptisch-schweizer Elternpaar geborene, in den USA ausgebildete
Regisseurin verfolgt in ihrem Erstling Schicksale nordafrikanischer
Frauen. Leila flieht vor den Schlägen des Vaters; das Studium
mußsie durch Prostitution finanzieren. Die Studentin Amina
heiratete ihren Professor; nach Jahren der Ehe schlägt er sie
krankenhausreif. Bei der emanzipierten, selbständigen
Ärztin Naima laufen die episodisch erzählten, detailliert
lebendigen Geschichten zusammen. Ein "Frauenfilm", der von der
weiblich dominierten Hauptjury übersehen wurde.
zurück
Den Goldenen Leoparden erhielt "Nénette et Boni" von der
Französin Claire Denis. Die ehemalige Assistentin von Wenders
und Rivette holte Thema und Team der TV-Produktion "US Go Home"
fürs Kino wieder zusammen: Bruder Boni und Schwester
Nénette fauchen sich wie Hund und Katze an. Nénette
lebte nach der Trennung beim Vater, Boni kümmerte sich um die
sterbende Mutter und verzeiht der kleinen Schwester das damalige
Desinteresse nicht. Erst das Wissen um Nénettes
Schwangerschaft ändert Bonis aggressive Ablehnung. Allerdings
will das sehr junge Mädchen kein Kind aufziehen. "Nénette
et Boni" lebt von der leichten, beiläufigen Erzählweise,
die mit originellen atmosphärischen Inserts genauso von
Marseille handelt wie von seinen jungen Menschen. Zwei Darsteller aus
dem Film erhielten Bronzene Leoparden. Grégoire Colin als Boni
und Valeria Bruni-Tedeschi, die seine ausufernden erotischen
Phantasien verkörpert.
zurück
Silberne Leoparden gibt es in der neuen Wettbewerbsformel für beide Kategorien der Teilnehmer. Den für das "Neue Kino" erhielt Clara Laws Exodusstory einer Hongkong-Familie. "Floating Life" erzählt vom schweren Stand der Traditionen in neuen Heimaten. Und - ohne es deutlich auszusprechen - von den problematischen Perspektiven für die Menschen Hongkongs vor der Übergabe der Kronkolonie an China. Die Töchter der Chans aus Hongkong assimilieren sich nur mühsam in ihrer Diaspora. Sei es Australien oder Deutschland. Hinter der komödiantischen Fassade eines überdrehten, sehr erfolgreichen Lebens kristallisiert sich verzweifelte Einsamkeit heraus. Aber auch der älteste Sohn verliert im rasenden Geschäftsleben der Stadt den Bezug zur Tradition.
Clara Law zog mit ihrem Ko-Autor und Partner Eddie L.C. Fong vor
dieser Produktion nach Australien. Stilistisch arbeitete sie
konventioneller als in "Autumn Moon", für den sie 1992 einen
Goldenen Leoparden erhielt. Damals entstand am Lago Maggiore auch die
Idee zu "Floating Life". Der Titel bezeichnet das fließende
Leben in unserer multikulturellen Welt, von einer Sphäre zur
nächsten: "Dies wird das wichtigste Phänomen des 21.
Jahrhunderts. Jeder hat Freunde aus anderen Kulturkreisen. Bei den
Dreharbeiten waren wir ein Team aus 10 verschiedenen ethnischen
Gruppen." (Clara Law)
zurück
In der Abteilung für erste und zweite
Werke wurde der Tscheche Petr Vaclav für "Marian" mit dem
zweiten Silbernen Leoparden beschenkt. Das düstere Leben eines
Heiminsassen in der Tschechoslowakei war allerdings zu vorbestimmt,
um interessieren zu können. Die Hauptfigur erscheint schon in
frühester Kindheit zu deformiert, als daßMitleid für
ein Opfer aufgebracht wird. Außergewöhnlich und politisch
ist das Schicksalsdrama höchstens durch Marians Herkunft aus
einer Zigeunerfamilie.
zurück
Der Wettbewerbsabschlußauf der Piazza mit der deutschen
Produktion "Seven Servants" enttäuschte. Ausgehend von einem
Traum und einem Bild des Malers Daryush Shokof inszenierte der Autor
Shokof die letzten zehn Tage eines Philanthropen. Junge Männer
aus verschieden Erdteilen stecken ihre Finger in seine Ohren und
Nasenlöcher. Er erlebt dauerhafte körperliche Vereinigung
mit ihnen. Eine originelle Idee, schöne Kostüme,
Ausstattungen und Bilder, ein Anthony Quinn als respektabler
Hauptdarsteller. Doch es fehlt dem schönen, dünnen
Bilderbogen der Geist, der beispielsweise die Werke eines Greenaways
bereichert.
zurück
Der diesjährige, achte Ehren-Leopard
für ein Gesamtwerk ging an Werner Schroeter. Damit bewahrt
Locarno seine Kontinuität, "schwierige" Künstler und Werke
ins Rampenlicht zu stellen. Vor Schroeter erhielten Manoel de
Oliveira, Kira Muratova und Jean-Luc Godard einen Ehren-Leoparden.
Auch die diesjährige Retrospektive für den ägyptischen
Regisseur Youssef Chahine machte dessen Filme zugänglicher. Nach
"Malina", Schroeters letztem Film, dauerte es fünf Jahre bis
"Abfallprodukte der Liebe" Premiere feierte. Isabelle Huppert ist
erneut dabei, doch spielt sie jetzt nur eine kleine Rolle neben den
großen Diven, die Schroeter versammelte. Madame Cerquetti,
Madame Mödl und Madame Gorr - wie Schroeter sie nennt -
beeindruckten ihn seit der Jugend. Jetzt bieten sie in dekorativem
Ambiente "Abfallprodukte der Liebe", denn das ist die Musik und das
sind alle Künste nach Schroeter. Dazu unterhalten sich die
Sänger und Sängerinnen eines gekünstelten und doch
familiären Liederabends über Gefühle und Tod.
Schroeters nächster Film wird eine Dokumentation über Maria
Callas sein.
zurück
Das Publikum der Piazza Grande wählte
"Microcosmos" zu ihrem Favoriten. Umjubelter Star bei diesem
Festival, das seine Gäste nicht in den Himmel hebt, sondern am
Nebentisch des Cafés setzt, war Nanni Moretti. Der
Publikumsliebling war entsprechend seiner vielseitigen
Tätigkeiten als Regisseur und Darsteller eines Kurzfilms
über sein eigenes Kinos in Rom ("Il giorno della prima di 'Close
Up'"), als Produzent und Darsteller in "La seconda volta" sowie als
Präsentator der Sieger seines Sacher-Festivals für
Kurzfilme vertreten.
zurück
"La seconda volta" ist die zufällige
Begegnung zweier Menschen, die sich bereits vor zwölf Jahren
trafen - genauer: damals traf die linke Attentäterin Lisa
Venturi (Valeria Bruni-Tedeschi) den leitenden Fiat-Angestellten
Alberto Sajevo (Nanni Moretti) mit einer Kugel in den Kopf.
Täterin und Opfer müssen sich etwas sagen, da ihr Leben
seit dem Attentat untrennbar verbunden ist. Doch die Tat machte beide
zu verhaltenen, stillen Charakteren. Zeitweise scheint es, als
könnte eine Art Liebe aufkommen, die auch Opfer und Folterer
verbindet. Doch die Situation ist nicht auflösbar. Sajevo geht
einer ungewissen Operation entgegen, Lisa Venturi zieht sich in die
Haft zurück. Regisseur Mimmo Calopresti gelang es mit zwei
hervorragenden Darstellern die drückende Stimmung und die fatale
Verbindung spürbar zu machen.
zurück
Die einzigartige, faszinierende Situation von
"La seconda volta" (der schon im Wettbewerb von Cannes lief) tauchte
ebenso im iranischen Wettbewerbsbeitrag "Ein Moment der Unschuld"
(Nun va goldun) auf: Zwei Jahrzehnte nach dem politisch motivieren
Attentat treffen Opfer und Täter für einen Film über
dieses Ereignis wieder aufeinander. Während der Polizist den
jungen Darsteller seiner Rolle zu der entscheidenden Szene
führt, weist der Regisseur Mohsen Makhmalbaf (im Film!) sein
eigenes alter ego ein. Doch es gibt mindestens zwei verschiedene
Versionen. Der Posten bei einem hohen Schah-Militär wartete mit
einer Blume auf ein unbekanntes Mädchen. Der militante
Attentäter schickte seine eingeweihte Verwandte nur zur
Ablenkung täglich zum Polizisten. Immer wieder scheitert die
entscheidende Szene. Bis zum Schlußbild, in dem die jungen
Darsteller statt Messer und Pistole Brot und Blume (wie der
Originaltitel lautet) zücken. Makhmalbaf zeigt spielerisch mit
dem ganz speziellen iranischen "Film im Film"-Realismus von (siehe
auch Kiarostamis "Quer durch den Olivenhain"), daßdie alten
Ideale der nächsten Generation nicht mehr verständlich
sind. Die Jury verlieh ihm einen Bronzenen Leoparden
ausdrücklich nicht für diesen Film, sondern für sein
Gesamtwerk.
zurück
In der hervorragenden Kritikerwoche, die diesjährig
allerdings auch schwächere Beiträge enthielt, verfolgte
Richard Dindo - nach Che oder Arthur Rimbaud - erneut die Spuren
einer von ihm verehrten Person. "Augenblicke im Paradies" begleitet
den weißen südafrikanischen Autor Breyten Breytenbach auf
einer Erinnerungsreise durch sein Heimatland. Die Stätten der
Kindheit, der Verfolgung und der Inhaftierung, begleitet wiederum
durch Texte Breytenbachs - reich an Poesie und Politik. Eine starke,
sympathische Persönlichkeit stellt sich der Wehmut über
eine verlorene Heimat. Denn an der politischen Erneuerung beteiligte
sich Breytenbach nicht mehr, er blieb in der neuen Heimat, dem
Exil.
zurück
Die alten Männer und die Videos
Cinéastes du présent, die nach neuen Ausdrucksformen
suchende, umfangreichste Sektion, war französisch bestimmt, wie
auch sonst ein Viertel (!) aller Filme aus Frankreich kamen. Das lag
nicht nur am Kurzfilmprogramm "Leoparden von Morgen", das in diesem
Jahr den ganz jungen französische Film vorgestellte. "Cineasten
von heute" verzeichnete bei bekannten Regisseuren einen
erschreckenden Rückzug ins private Video. Alain Cavalier nahm
für "La rencontre" den Austausch mit einer Lebenspartnerin auf.
Bewegungslose Details bilden ein Bilderrätsel. Allein eine
kleine Klaviermelodie in Vor- und Abspann. Liebesdinge,
Lebensdetails. Keine Gesichter, nur Stimmen. Cavalier bietet keine
Körpern, nur Abbilder von Seelen. Ein kindisches Alterswerk, das
sich mit HI-8 der üblichen Planung verweigert.
zurück
"Jetzt kann ich filmen, aber ich
weißnicht was." Hemmungs- und kunstlos dokumentierte Robert
Frank mit "The Present" einen aggressiven Ausbruch der Sinnleere in
seinem Leben. In seiner Einsamkeit zwang er sich, jeden Tag irgend
etwas zu filmen. Ein deprimierendes Tage-, ein zu schnell
umgeschlagenes Fotobuch, des einst gefeierten Fotografen Robert
Frank.
zurück
Amos Gitaïkehrte nach dem Attentat auf
Itzhak Rabin nach Israel, der realen und der übertragenen Arena
des Mordes, zurück. In "The arena of murder" spricht er mit Lea
Rabin, der Witwe des Ermordeten, nimmt junge Friedens-Rocker auf,
versucht einen Wandel zu dokumentieren. Die Suche nach
Erklärungen, nach Perspektiven für die israelische
Gesellschaft ist auch Selbstreflexion. Wie schon 1973 durch den Krieg
und einen traumatischen AbschußGitaïs Wendung zu Film
ausgelöst wurde, führt das Attentat zu einem stilistischen
Umdenken: "Die Form interessiert mich wenig." Filmemacher, die gute,
hervorragende Inszenierungen geleistet haben, verlassen sich bei
ihren Suchen auf das Gefühl und eine kleine Kamera in der Hand.
Sie dokumentieren Orientierungslosigkeit.
zurück
Schweizer Festivalstreit In einer weiteren
Neuerung des Festivals schnappten Müllers Leoparden nach den
einheimischen Schweizer Filmen: "Schweizer Perspektiven", ein
kleiner, aber mit 100.000 Sfr (ca. 120.000 DM) hochdotierter
Wettbewerb macht Solothurn Konkurrenz, wo der nationale Vergleich
bislang beheimatet ist. Finanziell mag die Aussicht auf einen Gewinn
der "Schweizer Perspektiven" sogar attraktiver sein als ein nur mit
30.000 Sfr dotierter Goldener Leopard. Bei diesem Hauptthema des
Festivals warnte selbst die Bundesrätin Ruth Dreifuss (der Bund
ist größter Finanzier des Festivals) vor einer Bedrohung
der breiten Schweizer Festivallandschaft. Wie sehr dieser Schweizer
Wettbewerb Nyon und Solothurn einschränkt, wird sich erst im
nächsten Jahr zeigen, wenn die Macher neuer Schweizer Filme ihre
Entscheidung getroffen haben.
zurück
Locarno '96 waren wieder zehn konzentrierte Tage
mit Filmen, die viel verlangen, aber meist auch viel geben. Nur eins
kaum: einfache, gängige Unterhaltung. Es bleibt zu hoffen,
daßdiese spannende Entdeckungsreise abseits vom Mainstream
Resonanz findet. Insgesamt ist das Festival von Locarno bei
Presseeinrichtungen und -vorstellungen professioneller geworden. Bei
der Abschlußveranstaltung gab Marco Müller eine Preview
auf das nächste, das 50. Festival in Locarno: Die Retrospektive
will Clint Eastwoods komplettes Werk als Schauspieler, Regisseur und
Produzent zeigen. Vielleicht spielt er dann auch einige seiner
Kompositionen selbst am Piano des Grand Hotel beim nächtlichen
Festivalausklang.
zurück
Eine Kritik von Günter H. Jekubzik
realisiert durch |
Ein Service von |