Von Günter H. Jekubzik
Berlin. Der klare und erwartete Gewinner der 48. Berlinale heißt "Central do Brasil". Der brasilianische Regisseur Walter Salles erzählt die Geschichte einer Briefeschreiberin im Zentralbahnhof Rio de Janeiros. Für eine Real verfaßt sich die Nachrichten für zwei Real schickt Dora sie auch ab. Das Schicksal führt Dora mit dem neunjährigen Joséu zusammen, eine Reise in Landesinnere wird beider Leben verändern. Die Polit- und Mediensatire "Wag the Dog" von Barry Levinson verfehlte ihre bissig-humorvolle Wirkung auch bei der elfköpfigen Jury unter Ben Kingsley nicht und erhielt den Spezialpreis. Neben dem Goldenen Bären erhielt "Central do Brasil" auch einen Silbernen Bären für Fernanda Montenegro als Beste Darstellerin. Ein Silberner Bär für die Beste Regie und eine besondere Erwähnung ging an Neil Jordons "The Butcher Boy" und seinen jungen Hauptdarsteller Eamonn Owens. Als Bester Schauspieler wurde Samuel L. Jackson in "Jackie Brown" gekürt. Auffällig, daß Namen, die in den letzten Jahren junges, dynamisches Kino garantierten, auf die konventionelle Schiene gerieten: Quentin Tarantino drehte "Jackie Brown" als einen gemächlichen Film mit und für die Vierziger. Gus van Sant blieb den jungen Leuten aus "Drugstore Cowboy" und "My private Idaho" treu. Doch Matt Damon - mit einem Silbernen Bären für seine herausragende Einzelleistung belohnt - und Ben Affleck, die Autoren und Darsteller von "Good Will Hunting", erwiesen sich als exzellente Erzähler altbekannter Geschichten. Der Senior Alain Resnais experimentierte wieder am mutigsten mit der Filmform, indem er alte französische Chansons in dem filmischen Singspiel "On connait la chanson" aufleben ließ. Für den Beitrag zur Filmkunst, den sein Lebenswerk darstellt, gab es einen Silbernen Bären.
Das Internationale Forum des jungen Films, die anspruchsvollste Sektion der Berlinale, bot noch einen "richtigen Tarantino", der allerdings von Amos Poe realisiert wurde: "Frogs for Snakes". Eine New Yorker Theatertruppe vereinigt darin Gangster- und Künstlertum in einer absurden Weise. Jeder im Haufen um Boß Al Santana (Robbie "Fitz" Coltrane) würde für eine Rolle töten. Nur Eva (Barbara Hershey) lebt als einzige noch in der Realität außerhalb von Rollen und Träumen. Ansonsten wird ebenso wild geschossen, erpreßt, geklaut und gemordet wie zitiert. Selbst der Tod der Mutter, die Entführung der Kinder oder eine Kugel im Bein halten die Leute nicht davon ab, spontan eine ihrer Lieblingsrollen mit Orson Welles oder Marlon Brando zu bringen. So ist "Frogs for Snake" blutig und drastisch wie Tarantino in früheren Zeiten. Und sogar noch mehr Begeisterung für gute Filme steckt in Amos Poe, doch er parodiert auch trefflich die Menschen und Filme, die nur in der Wiederholung von Kunstmomenten und -figuren leben. Poe lieferte damit auch den besten Kommentar zu vielen Filmen und dem Festival überhaupt ab: "Die meisten Filme zitieren sowieso nur. Weshalb nicht direkt alle seine Lieblingsszenen nehmen und ihnen dann einen neuen Kontext geben." In diesem Sampling, dieser musikalischen Machart liegt Poe ganz nahe beim Prinzip von Resnais' "On connait la chanson". Amos Poe macht seit mehr als 25 Jahren "seine" Filme, unabhängig vom Mainstream. Jetzt sei dieser aber so langsam bei ihm angekommen, beschrieb Poe eine kuriose Situation. Der Filmtitel spielt auch auf auf einen Song von Patti Smith an: sie keine Frösche mehr mästen, um sie an die Klapperschlangen zu verfüttern. In diesem Sinne ist "Forgs for Snakes" nach all der filmischen Selbstreflexion eine sehr reizvolle und schöne Ansicht über das Lebenswerte.
Bei der alljährlichen kritischen Frage "Kommen die Stars?" ergab sich 1998 die Peinlichkeit einer Filmvorstellung im Wettbewerbsrahmen ganz ohne einen Gast. Und das ereignete sich gleich zweifach: Bei Robert Altmans "The Gingerbreadman" und bei Barry Levinsons Polit- und Mediensatire "Wag the Dog". (Wieso zeigt de Hadeln dann zum Beispiel nicht auch den neuen Woody Allen, der auch nie zu Festivals kommt.) Der Rummel um DeNiro, der einen Tag später für seinen dritten Film in Berlin ankam und der glanzvolle Auftritt Catherine Deneuves zur Entgegennahme eines Ehren-Bären machten die Schieflage zwischen Glamour-Anspruch und grauer Realität im Schatten von Cannes klar. Doch programmatische Akzentverschiebungen, die dem mit Mittelmäßigkeit überladenen Wettbewerb gut täten, sind - wenn überhaupt - erst nach dem Umzug der Berlinale zum Jahr 2000 zu erwarten.
Auf der Suche nach interessanten, guten und stilistisch wie geographisch breit gefächerten Filmen war man in der Panorama-Sektion "Specials" besser aufgehoben. Auch ohne vermehrte Previews amerikanischer Großproduktionen kristalliert sich im Schatten des Wettbewerbs hier eine interessante Festivalschiene heraus. Französische Liebesgeplänkel a la "Petits désordres amoureux", philipinisch verwurzelte Geschichte in "The navel of the sea", schräges, deutsches Urgestein von Herbert Achternbusch ("Neue Freiheit keine Jobs"), Eheanbahnung auf arabisch in Nordfrankreich ("L'Honneur de ma famille") und polnisch in Detroit ("Polish Wedding") oder raffiniert komplexe Spannung aus Spanien ("Abre los ojos"). Das alles ließe sich komplett und mit viel Gewinn gegen den Wettbewerb austauschen. Angesichts dieser Programmergebnisse, wäre es sehr spannend, hinter die psychologische Auswahldynamik der Parteien Moritz de Hadeln (Wettbewerb) und Wieland Speck (Panorama) zu schauen. Hierzu muß man wissen, daß diese Sektionen in enger Zusammenarbeit geplant werden. Selbstverständlich kommen die Filme mit schwulen und lesbischen Themen, die Dokumentationen, die Experimente ins Panorama. Aber auch traditionsgemäß, das was nicht mehr in den Wettbewerb paßt. Und diese Filme sind vor allem in der Schiene "Panorama Specials" so reizvoll, daß man ruhig der Auswahlkommission die Schuld am vielfachen Wettbewerbsleiden geben muß. Denn neben den paar bekannte Namen in Großproduktionen unter dem Schutz der Majors gibt es - ganz abgesehen von der exzellenten FilmKUNST im Internationalen Forum - im Panorama die besseren Filme.
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