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Transit (2018)

BRD Frankreich 2018 Regie: Christian Petzold, mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, 101 Min. FSK: ab 12

Christian Petzold, der Regisseur mit den klügsten deutschen Filmen, versetzt seine „Gespenster“ in einer genial freien Adaption von Anna Seghers’ Roman „Transit“ aus dem Jahr 1944 in das Marseille verzweifelter deutscher Flüchtlinge. „Phoenix“ ist diesmal Georg (Franz Rogowski), der die Identität des verstorbenen Schriftstellers Weidel annimmt, um ein Visum der mexikanischen Botschaft zu erhalten.

Petzold geht den Stoff mutig mit der genialen Idee an, die Flüchtlings-Situation deutscher Immigranten mit der von afrikanischen Opfern des Heute zu verbinden. Die Kneipen, Polizeiwagen und -Sirenen aus Paris und Marseille sind gegenwärtig. Die Situation ist die des besetzten Frankreichs der 40er Jahre. Georg ist einer der Vertriebenen, der sich vor allem treiben lässt. Bei einem Gefälligkeitsgang kommen die Manuskripte, Briefe und Visa-Unterlagen von Weidel in seine Hände. Der Schriftsteller hat sich in seinem Pariser Hotel umgebracht. Und es ist vor allem das konsequente Missverstehen des Beamten in der Botschaft, das Georg veranlasst, die Identität und damit die Visa und Fluchtmöglichkeiten von Weidel anzunehmen. Doch auch Weidels Frau Marie (Paula Beer) ist in der Stadt und sucht ihren Mann, den sie in Paris sitzenließ…

Die Situation der Flüchtlinge ist nicht nur pervers, sie ist auch absurd: Man darf nur bleiben, wenn man nicht bleiben will. Nur wer Visa und Karten für die rettenden Schiffspassagen hat, wird nicht verhaftet. Und alle Durchgangsländer wollen zudem Transit-Visa. So findet das Leben im „Transit“ wartend in kleinen Hotels, den Lobbys der Konsulate, in den Cafés und Bars am Hafen statt. Georg freundet sich mit Driss an, dem dunkelhäutigen Sohn seines auf der Flucht gestorbenen Genossen Heinz. Hier, beim Fußball-Spiel mit dem kleiner Jungen marokkanischer Abstammung, im Gespräch mit deutschen Fußball-Vokabeln von heute vermischen sich die europäischen Flüchtlingsströme der 40er mit den aktuellen in anderer Richtung.

Der raffiniert konstruierten Geschichte mit überraschender Wende mitten im Film gelingt ein äußerst spannender Identitätswechsel, mit dem man sich sofort in die Situation der Verfolgten versetzt fühlt. Auf dieser „Road to Nowhere“ (Talking Heads im Abspann), der Straße ins Nirgendwo, wollen all die fluchtbereiten Menschen ihre Geschichten erzählen. Der Off-Text, üblicherweise gerne der pure Originaltext, lässt dabei anachronistische Elemente einfließen, wie George A. Romeros Zombiefilm „Dawn of the Dead“ von 1978. Und das ist nicht nur ein „Gag“, denn die Gestalten, die in Marseille in der Hoffnungslosigkeit feststecken, haben etwas von Zombies, von lebenden Toten. Überdies hungern und sterben sie in diesem Wartezimmer der Freiheit noch bevor die Deutschen tatsächlich einmarschieren.

Petzold setzt hier seine bekannten Motive um Nicht-Ort und fremde Identitäten auch aus „Yella“ und „Wolfsburg“ fort. Das ganze, vielleicht noch faszinierendere, ungeheuer kluge und dichte Gedankenkonstrukt dahinter ist in Begleittexten ausgebreitet. „Transit“ wird so zu einem Anti-„Casablanca“, einem deutlich entromantisierten , aber trotz der nüchternen Inszenierung in einer verpassten Liebesgeschichte sehr emotionaler Blick auf Flüchtlinge vor dem Nazi-Regime. „Shooting Star“ Franz Rogowski („Love Steaks“, „Victoria“), der zuletzt in Hanekes „Happy End“ als Freund der Flüchtlinge beeindruckte, fesselt in der Hauptrolle mit der stillen Intensität der allerbesten Leinwand-Stars. Sehr bewegend auch Paula Beer, die Hauptdarstellerin der aktuellen ZDF-Serie „Bad Banks“, als orientierungslos herumirrende Marie mit der großen Frage „Wer vergisst schneller, der Verlassene oder die, die ihn verlassen hat?“ Im außerordentlich guten Ensemble zeigt die Besetzung des Barbesitzers und Erzählers durch Matthias Brandt, wie genial dicht dieser Film gewebt ist: Der Sohn des Nazi-Flüchtlings Willy Brandt bewirtet hier quasi die Gespenster seiner Vätergeneration.


Ein FILMtabs.de Artikel