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Locarno 2016 Licht am Ende des Tunnels

Locarno. Licht am Ende des Tunnels! Heute taucht die Internationale Jury rund um den mexikanischen Regisseur Arturo Ripstein und seinem iranischen Kollegen Rafi Pitts aus dem Dunklen der Kinosäle auf, um das Ergebnis ihres Tunnelblicks zu verkünden – die Goldenen und Silbernen Leoparden für den Wettbewerb des 69. Filmfestivals von Locarno (3. – 13. August) werden am Abend in einer Gala auf der Piazza Grande verliehen. Dass ausgerechnet Tunnelfilme am Anfang und Ende des Filmfestivals der Südschweiz liefen, widerspricht nicht dem offenen Blick auf Welt und Gesellschaft des 2016 häufig sozial beobachtenden Festivals.

Am Anfang feierte sich die technische Nation mit dem, auch in NRW-Studios entstandenen, historischen TV-Film „Gotthard“ auf der Piazza Grande. Hinter der Leinwand machte derweil ein riesiges Kreis-Segment des neuen Gotthard-Bahntunnels Eindruck und den Kindern als Rutsche viel Freude. Am Donnerstag allerdings ließ der koreanische Regisseur KIM Seong-hun in seinem spannenden wie komischen Katastrophenfilm „Teo-neol“ (Der Tunnel) ausgerechnet einen Straßentunnel einstürzen. Er schildert das Drama eines unter Geröll eingeschlossenen Autofahrers und bleibt sicher vielen Heimreisenden bei der Fahrt nach Norden durch den alten Gotthard-Tunnel in Erinnerung.

Das nach Venedig zweitälteste Filmfestival der Welt präsentierte elf Tage, an denen man die B- und Alt-Stars kaum unter bekam: Bill Pullman, Jane Birkin, Harvey Keitel, Mario Adorf, Komponist Howard Shore und zuletzt die neunzigjährige Produzenten-Legende Roger Corman. Auf der Bühne der Piazza Grande wurde es eng, genau wie in den klaustrophobischen Zuschauerreihen davor, die wohl von Ryan Air verwaltet werden. Super-Stars gab es allerdings nicht, Matt Damon wurde zu „Jason Bourne“ recht peinlich per Video eingespielt. Das treue Publikum nahm es hin. Genau wie die allgegenwärtigen Taschen-Kontrollen, die man schon seit Jahren aus Cannes und Venedig kennt und die den Anschlägen der letzten Monaten Tribut zollen.

Mit filmischen Bekannten aus Cannes erzielte Locarno in seiner 69. Ausgabe unterschiedliche Ergebnisse: Der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme „I, Daniel Blake“ von Ken Loach entspricht in seiner eigentlich einfachen Machart gänzlich den Erwartungen und berührt mit dem Drama des sympathischen Kerls Dan Blake ungemein. Wie der Mann nach einem Herzinfarkt vergeblich um Krankengeld kämpft und proforma in die kafkaesk menschenfeindlichen Mühlen der Arbeitsvermittlung gerät, ist herzzerreißend und könnte den bisherigen Piazza-Favoriten „Paula“ von Christian Schwochow beim Publikumspreis überholen. Beim anderen aus Cannes bekannten Namen, Angela Schanelec („Orly“, „Marseille“), gefriert einem eher das Herz, so kühl und stilisiert sind die Wege zweier Paare im Wettbewerbsfilm „Der traumhafte Weg“ inszeniert. Mehr Aufnahmen von Füßen und Beinen als Gesichter, die papiernen Sätze leblos deklamiert, seltsame Personendopplungen über dreißig Jahre hinweg. Das ist Kunstkino zum Rätseln. Oder zum Weglaufen, wie eine laute Abwanderung während der öffentlichen Vorführung kundtat.

Im qualitativ durchmischten Wettbewerb mit international sensationeller Quote von acht Frauen unter 17 Filmen hat sich kein Favorit herauskristallisiert. Der Rumäne Radu Jude erfüllt mit „Inimi cicatrizate“ (Ängstliche Herzen) die Erwartungen, die nach dem Regie-Preis der Berlinale für „Aferim!“ in ihn gesetzt wurden. Nun erzählt er formal streng in festen Einstellungen eine Zauberberg-Geschichte, die 1937 in einem Schwarzmeer-Sanatorium spielt und auf dem autobiographischen Roman des rumänischen Autors Max Blecher basiert. Blecher starb nach zehn Jahren Tuberculose im Alter von 29. Der Schweizer Michael Koch ist mit seiner deutschen Produktion „Marija“ unter den Entdeckungen, ebenso seine sensationelle Hauptdarstellerin Margarita Breitkreiz, die eine Ukrainerin in der Dortmunder Nordstadt spielt.

Ebenso ungemein gegenwärtig und aktuell der französische Piazza-Film „Le Ciel attendra“ (Der Himmel wartet) von Marie-Castille Mention Schaar über zwei jugendliche Mädchen aus bürgerlichem, nicht muslimischem Umfeld, die zu Dschihadistinnen werden. Rebellion gegen liberale Eltern und die Internet-Liebe zu einem IS-Verführer führen zu Dramen pubertären Aufstandes, der heutzutage im Islamismus landet. Der wache Blick für Soziales und Politisches bleibt Markenzeichen für Locarno. So auch mit dem bewegendsten Beitrag der Kritikerwoche, die sich auf Dokumentationen spezialisiert hat, „Cahier africain“. Die erfahrene Dokumentaristin Heidi Specogna („Pepe Mujica – Der Präsident“, „Das Schiff des Torjägers“) zeigt das titelgebende Notizbuch mit vier Fotos von zentralafrikanischen auf jeder Seite. Das bedeutet, jeweils vier Geschichten von Vergewaltigung. Zeugenaussagen von 300 Frauen und Mädchen, die während des Krieges von Söldnern aus dem Kongo vergewaltigt und misshandelt wurden. Specogna mischt Bilder des Alltags in die erschütternden Berichte der Frauen, nackte Zahlen aus den Nachrichten bekommen so ein Gesicht.

Nach „Gerhard Richter Painting“ widmet sich Corinna Belz nun einem Schriftsteller und realisierte mit „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte…“ ein richtig gutes, nettes und intimes Porträt des Mannes, der seit „50 Jahre Auseinandersetzung mit Sprache“ betreibt. Die Kamera fängt bei den vielen Besuchen in Haus und liebevoll gepflegten Garten am Rande von Paris nicht nur die Ansammlungen von Blei- und anderen Stiften ein. Zweifel und Spaß an dieser Inszenierung sind ebenso zu sehen wie die Frustration als Belz spät im Film doch auf die umstrittenen Serbien-Äußerungen zu sprechen kommt. Ein sehr gelungenes Porträt und schönes Fundstück im Rauschen hunderter Festival-Filme.

Das Festival am Lago Maggiore erwartet für das 70-Jährige in 2017 drei neue, richtige Kinosäle und übernahm schon in diesem Jahr kurzfristig die Regie der Kirmes- und Fress-Buden der „Rotonda“, einer bislang chaotischen Vergnügungsstätte am Rande der Altstadt. Doch weit größeren Einfluss auf das Gesicht des Festivals hat das ferne Zürich mit seiner Konkurrenz-Veranstaltung im Herbst. Die Deutsch-Schweiz fährt dort zu wenig riskanten Kino-Previews reihenweise Prominenz auf. Der Leopard hechelt diesbezüglich hinterher und versucht gegen die eigenen Qualitäten die entsprechende Presse-Öffentlichkeit mit Namen statt mit Filmen zu gewinnen. Bei den bereits veröffentlichten Zahlen der Piazza Grande führt das nicht zu berauschenden Ergebnissen. Nur zu „Jason Bourne“ waren über 7000 Plätze besetzt, drei Abende blieben unter 5000. Das ist viel für ein normales Festival, aber nur durchschnittlich für das gigantische Open Air-Kino. Zu hoffen ist deshalb auf starke Preisträger heute Abend, die sich filmisch in den Vordergrund drängen können und den guten Namen Locarnos fortschreiben.


Ein FILMtabs.de Artikel