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The Cut

BRD, Frankreich, Polen, Türkei, Kanada, Russland, Italien 2014 Regie: Fatih Akin mit Tahar Rahim, Simon Abkarian, Makram J. Khoury, Kevork Malikyan, Bartu Küçükçaglayan, Trine Dyrholm 139 Min. FSK: ab 12 Fatih Akins neuer Film, der dritte Teil seiner weit gespannten Trilogie um „Liebe, Tod und Teufel“ beginnt im Grauen des türkischen Völkermordes an den Armeniern in den Jahren 1915, 1916 und läuft in einer Odyssee zu den in alle Welt verstreuten Überlebenden als starkes Road Movie aus. Dass die jahrelange Suche des armenischen Dorfschmiedes Nazaret Manoogian (Tahar Rahim, der Hauptdarsteller von „Ein Prophet“) aus Mardin im untergehenden Osmanischen Reich nach seinen Zwillingstöchtern auch ein Panoptikum ganz aktueller Flucht, Verfolgung und Entwurzelung ist, zeigt die thematische Weite, die in den großen Landschaften einer verzweifelten Reise steckt. 1915 herrscht auch im Osmanischen Reich, das sich mit Deutschland und Österreich verbündet hat, Krieg. Doch das Dorf Mardin zeigt noch eine Ahnung vom friedlichen Zusammenleben aller Volksgruppen. Bis alle armenischen Männer in der Nacht abgeholt werden. Als Gefangene bauen Nazaret und seine Leidensgenossen unter brutaler Soldatenknute und brennender Sonne eine Straße durch die Steinwüste. Die Frage, wer sie benutzen wird, beantwortet sich aufs Schrecklichste, als armenische Frauen und Kinder auf Todesmärschen vorbei getrieben werden. Vom Wegesrand beobachtet Nazaret eine Vergewaltigung, andere Gräuel lassen sich erahnen. Als auch die Männer an der Reihe sind, entgeht Nazaret dem Tod, weil sein türkischer Henker ihm aus Unvermögen zu töten nur in den Hals sticht. Fortan irrt Nazaret noch lebend aber stumm durch die Schrecken des Genozids, durch weite Landschaften, die sich in Schlüsselmomenten zu Szenen einer Hölle auf Erden verdichten. Das Flüchtlingslager Ras al-Ayn, in dem ausgemergelte Gestalten nur noch den Tod erflehen, ist nicht nur hochaktuell, sondern auch ein großes ikonisches Kinogemälde, das sich einbrennt. Hier nähern sich Fatih Akin und sein Kameramann Rainer Klausmann im Bild dem großen türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan. Der türkische Völkermord an den Armeniern ist auch nach fast 100 Jahren noch ein Thema, für dessen Behandlung der türkisch stämmige Regisseur Fatih Akin nun um sein Leben bangen muss. Dieser von der Weltgemeinschaft hingenommene Genozid war, wie Hitler immer zitiert wird, die Vorlage für den Holocaust: „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, meinte er 1939. Die systematische Vernichtung dieser uralten christlichen Kulturgruppe fand erstmals 1933 in Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein literarisches Echo. Nachdem das Grauen mit über eine Millionen Opfer besonders in Deutschland aus Rücksicht auf die verbündete Türkei und auch wegen der wahrscheinlichen Beteiligung deutscher Militärs und Regierungen „totgeschwiegen“ wurde. Filme taten sich bislang mit dem Thema schwer: Vor allem der armenisch-stämmige Kanadier Atom Egoyan, an der Namensendung -yan oder -ian als „Armenier“ erkennbar, hat in unserer Zeit mit poetischen und bewegenden Filmen an den Genozid und seine traumatischen Folgen für heimatlose Armenier in aller Welt erinnert. Wobei er ausgerechnet in seinem schwächsten Film „Ararat“, mit dem ebenfalls armenisch-stämmigen Charles Aznavour (Chahnour Varinag Aznavourian), daran scheiterte, die unfassbaren Gräuel direkt zu zeigen. (Der Auftritt von Arsinée Khanjian, der Ehefrau Egoyans adelt übrigens „The Cut“..) Auch die Italiener Paolo und Vittorio Taviani wollten die Grausamkeiten des türkischen Völkermordes auf die Leinwand bringen. Doch „Das Haus der Lerchen“ war 2007 ein gut gemeinter, aber grausam schlecht gemachter Botschaftsfilm. Fatih Akins „The Cut“ daran zu messen, hieße den Film nur nach seiner ersten Stunde zu beurteilen. Denn er geht mit seiner tragischen Hauptfigur weiter, in den Libanon, nach Kuba und in nordamerikanische Städte und Steppen. Überall findet Nazaret, der zwar den Glauben verloren hat, aber die Hoffnung nicht aufgibt, verstreute Armenier. Und überall erinnert der Film an ähnliche Schicksale und Situationen von heute: Das erwähnte Diyarbakır steht heute für die Verfolgung der Kurden. Was ein Hohn der Geschichte ist, denn damals waren unter den Tätern und Mittätern auch Kurden. Man kommt mit nationalistischen, ethnischen oder religiösen Pauschal-Urteilen und Verurteilungen halt nicht weit. Die Deportationen von Srebrenica sind auf der historischen Folie von „The Cut“ ebenso zu entdecken wie die ausgebeuteten Näherinnen von Bangladesh. Denn in so einem, von Moritz Bleibtreu in kleiner Rolle geleiteten „Sweatshop“ landeten Nazarets Töchter in den USA. Dieses offene Panoptikum von Unterdrückung, Ausbeutung und Verfolgung wird begleitet vom Sound der Road Movies, mit einer Tonspur, die sich einschleift und wie bei Neil Young in kreisender Wiederholung nach vorne treibt. Dabei ist Fatih Akin näher an Theo Angelopoulos, der eine zeitlich ganz nahe Vertreibung der Griechen zu einem Epos gemacht hat, als an seinen eigenen Filmen wie „Soul Kitchen“ (2009), „Auf der anderen Seite“ (2007) oder „Gegen die Wand“ (2004). Doch nicht nur, wenn Nazaret für einen leichten Moment auf seiner Odyssee in einem Hinterhof in Aleppo den Zauber einer ersten Filmvorführung mit Chaplin erlebt, wird die große Kinoleidenschaft dieses Filmemachers deutlich, deren Ausdruck auch „The Cut“ wieder ist. ✍


Ein FILMtabs.de Artikel