« | Home | »

Die Karte meiner Träume

Frankreich, Kanada 2013 (T.S. Spivet / L’ extravagant voyage du jeune et prodigieux T.S. Spivet) Regie: Jean-Pierre Jeunet mit Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Judy Davis, Callum Keith Rennie 105 Min. FSK: ab 0 Muss man mehr sagen? Jean-Pierre Jeunet hat „Delicatessen“ (1990), „Die Stadt der verlorenen Kinder“ (1994), „Alien – Die Wiedergeburt“ (1997), „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001), „Mathilde – Eine große Liebe“ (2004) und zuletzt „Micmacs – Uns gehört Paris!“ (2009) gemacht. Dabei bis auf „Alien“ sowohl Regie als auch Drehbuch verantwortet. Nun begibt sich der Franzose in die USA. Ist die Reise eines verlorenen Kindes ein „Amélie in Amerika“? Nicht ganz… Titelheld T.S. Spivet (Kyle Catlett) ist ein ängstlicher Zehnjähriger, der mit seiner Familie auf einer Ranch im sehr ländlichen Montana lebt. Mit einem 100 Jahre zu spät geborenen Cowboy als Vater. Die hoch intelligente Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter als Ersatz für Audrey Tautou) ist Spezialistin in der Erforschung von Crickets und andererseits unfähig, einen Toaster zu bedienen, wie die Galerie angeschmorter und kurzgeschlossener Apparate in der Küche beweist. Da T.S. viel von ihr geerbt hat, überrascht es ihn nicht, dass er mit einem Wissenschaftspreis des angesehenen Smithsonian Instituts ausgezeichnet wurde. Denn bisher konnte noch niemand in der Menschheitsgeschichte ein Perpetuum Mobile entwickeln. Der Knirps machte es. Ganz allein. Und so macht er sich auch alleine auf, den Preis in Washington DC, auf der anderen Seite des Landes, in Empfang zu nehmen. Der eigentlich ängstliche Junge bricht mit einem viel zu schweren Koffer auf. Genial, wie er den Transportzug mit einem aufgemalten Haltesignal zum außerplanmäßigen Stopp bringt und entert. Sehr Jeunet und nett doppelt gemoppelt, dass er im Stile der Wanderarbeiter mit einem Zug den Kontinent bereist – auf dem zur Sicherheit noch so ein modernes Symbol der Eroberung von unbekannten Weiten steht, ein Wohnmobil. Die erwarteten Aufnahmen von weiten Landschaften, einem verirrten Bison und vielen anderen „Americana“ lassen vermuten, dass auch in Jeunet ein zu spät geborener Cowboy steckt. Aber er zeigt auch eine Landschaft aus Zahnrädern, ein Mädchen, das auf einer Schaukel Kopf steht. Auf jeden Fall steckt „Die Karte meiner Träume“ voller verrückter Ideen und ist sehr raffiniert inszeniert. Bis T.S. und seine Geschichte beim Eigentlichen ankommen, verharrt die Komödie in geistreicher, origineller Beobachtung, angereichert mit netten Einblicken in die Gehirnwindungen und Animationen der Gedankengänge T.S.’s. Der Film hat ein anderes, gemächlicheres Tempo als in „Amelie“. Ansonsten bleibt vom Jeunet-Stil der seit „Delicatessen“ bekannte Schauspieler Dominique Pinon, hier als ein alter Hobo und Geschichtenerzähler. Das ähnelt Wes Andersons Kinderabenteuer „Moonlight Kingdom“, ist aber dünner, monothematischer. Denn die Hauptsache im Gepäck des Jungen ist die vermeintliche Schuld am Tod des kleinen Bruders, der sich – auch typisch amerikanisch – mit dem eigenen Gewehr erschossen hat. Das kann die sehr originelle aber auch ziemlich separate Familie nicht auffangen und es bedarf einer großen Erfindung und Odyssee, bis sie wieder mit ihren sympathischen Eigenarten zusammenfinden. Was schon alles in den witzigen Bildideen steckt, wenn es die glückliche Familie nur als Pappaufsteller im Wohnwagen-Ausstellungsmodel gibt und das perfekte Frühstück aus Plastik ist. Dass die Geschichte „eine der besten Familien der Welt“ nicht der beste Jeunet ist, darüber kommt man dank reichen, unkonventionellen Persönlichkeiten und großartigen Bildideen mit nur leichter Sentimentalität hinweg. ✍


Ein FILMtabs.de Artikel