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Der Geschmack von Rost und Knochen

Frankreich, Belgien 2012 (De rouille et d’os) Regie: Jacques Audiard mit Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure, Céline Sallette, Corinne Masiero, Bouli Lanners 127 Min. FSK ab 12 „Der Geschmack von Rost und Knochen“ kommt als erste Sensation des neuen Filmjahres über die deutschen Kinos wie Erdbeben, Orkan und Tsunami zusammen: Leid, Leidenschaft, Lebenslust springen einen in der rauen und sinnlichen amour fou zwischen den Figuren von Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts mit aller Grausamkeit und Schönheit an. Die großartige Marion Cotillard spielt im neuen Film vom Cannes-Sieger Jacques Audiard („Ein Prophet“) eine Orca-Trainerin, der bei einem Unfall beide Beine abgebissen werden. Das ist extrem heftig inszeniert und tatsächlich wichtiger als ihre unbedeckten Brüste, die das Boulevard interessierte. Noch wichtiger eigentlich die andere Hauptrolle vom Flamen Matthias Schoenaerts („Bullhead“), der den Kickboxer Ali spielt. Er kann sich weder um die am Boden zerstörte Frau noch um seinen kleinen Sohn kümmern – außer wenn er seine Fäuste einsetzen muss, um den ins Eis eingebrochenen Kleinen zu retten. Zwischen den Extrempolen Côte d’Azur und verschneiten Ardennen, zwischen großen Namen und intensivstem Autoren-Drama packt der sehr starke Film in fast jeder Szene. Stärker noch, er haut um, schockt, bewegt, erschüttert. Die erste kurze Begegnung wäre längst vergessen: Ali (Matthias Schoenaerts) hat einen Job als Türsteher einer Disco und bringt die zickige Stéphanie (Marion Cotillard), die sich hemmungslos betrunken hat, in Sicherheit und nach Hause. Irgendwas stimmte schon da nicht bei ihr. Doch erst Monate später ruft sie bei ihm an. Denn den eindrucksvollen Bildern von der grausamen Dressur riesiger Killerwale in einem Freizeitpark, folgen unklare Szenen vom Blutrausch dieser tatsächlichen Killer. Noch heftiger ist, wie die Dressur-Chefin Stéphanie irgendwann ganz alleine aus dem Koma erwacht und erkennt, dass ihr die Unterschenkel amputiert wurden. Von einer Versicherung gut ausgestattet, haust sie fortan im Dunkeln ihrer barrierefreien Wohnung. Sie will nicht mehr, nichts mehr, nur sich umbringen. Dass nun ausgerechnet der emotional behinderte Ali helfen soll, der nicht in der Lage ist, für seinen Sohn zu sorgen und sein Leben nur in der Obhut der älteren Schwester ein wenig auf die Reihe bekommt, erstaunt. Doch nur seine Gefühlskälte lässt Stéphanie an sich ran. Der kantige Typ darf sie ins Meer tragen, wo sie wieder Lebensmut findet. Selbst sehr sachlichen Sex lässt sie zu, für den gut gebauten Muskelmann ein rein pragmatischer Gefallen. Genauso gut vergisst er sie in einer Disco inmitten tanzender Frauen für eine mit auffällig langen Beinen. Näher kommt sie ihm nur über einen Umweg: Durch seinen zwielichtigen Arbeitskollegen Martial (Bouli Lanners) wird Ali zum neuen Star einer illegalen, extrem brutalen Kickboxer-Szene. Als Martial wegen der Installation verbotener Ãœberwachungskameras in Supermärkten fliehen muss (und vorher Alis Schwester damit um das Auskommen als Kassiererin bringt) übernimmt Stéphanie den Trainerjob, gewinnt mit metallischen Prothesen schnell als „Robocop“ Achtung. Vor allem gibt ihre Präsenz ihm Kraft, auch wenn er schon in seinem eigenen Blut liegt. Genauso effektiv „umhauend“ inszeniert wie ein blutiger Zahn auf dem Asphalt während dieser brutalen Faustkämpfe ist eine unfassbare Begegnung zwischen der verstümmelten Dompteurin und dem riesigen Monster an der Glasscheibe des Aquariums. Das heftige Melodram „Der Geschmack von Rost und Knochen“ ist ein Film voller atemberaubender Momente um auf unterschiedliche Weise verstümmelte Menschen. (Und nebenbei die einzig wahre Antwort auf „Free Willy“.) Cotillard fasziniert nach „La vie en rose“, „The Dark Knight Rises“ und „Inception“ wieder mit der ganzen Palette ihres Ausdrucks von feiner Empfindsamkeit bis zu enorm starker Präsenz. Matthias Schoenaerts setzt seine Rolle als kastrierter Anabolika-Choleriker aus „Bullhead“ fort. Der Belgier beeindruckt in diesem zu nicht unwesentlichen Teilen belgischen Film: Koproduzent sind die Lütticher „Les Films de Fleuve” der Brüder Dardenne. Bouli Lanners, Regisseur und Darsteller aus Lüttich, bekommt als Kampfmanager Martial endlich mal eine ernste Rolle.


Ein FILMtabs.de Artikel