Der Wind wird uns tragen

Fr/Iran 1999 (Bad Mara Khahad Bord) Regie un Buch Abbas Kiarostami, 118 Min. OmU

Dies ist unverkennbar ein Film vom Iraner Abbas Kiarostami: Lange Wege schlängeln sich im Bild. Die Fahrt eines Wagens ins Schwarze Tal ist weit und beschwerlich. 700 Kilometer liegt das kurdische Dorf von Teheran entfernt. Lange Zeit hören wir nur die Stimmen der suchenden Insassen. Dann taucht eines dieser aufgeweckten Kinder aus Kiarostamis Filmen auf, weist den Fremden den Weg und hat auch gleich wieder ein Schulbuch vergessen. Und sofort gibt es mit dem Jungen eine lange Führung durch das Dorf. Genau wie in "Wo ist das Haus meines Freundes?" (1987), dem Meisterwerk, mit dem die Filmwelt wieder anfing, nach Persien zu schauen.

Es ist mittlerweile ein eigener Kosmos, in den uns der international bekannteste Regisseur Irans entführen kann. In Cineastenkreisen wird er verehrt. Seine verschachtelten Trilogie "Wo ist das Haus meines Freundes?", "Und das Leben geht weiter ..." mit "Quer durch den Olivenhain" als Abschluß erzählt wunderbar einfach, berichtet dokumentarisch über die Folgen eines verheerenden Erdbebens und reflektiert Filmproduktion unter iranischen Bedingungen. Ausgerechnet für eine unfertige Enttäuschung, "Der Geschmack der Kirsche" erhielt Kiarostami 1997 die Goldene Palme von Cannes. Die damals brüchige Thematisierung von Leben und Tod setzt sich jetzt formvollendet fort.

Diesmal mietet sich ein "Herr Ingenieur" mit seinen drei Begleitern in dem abgelegenen Dorf ein. Als Schatzsucher wollen sie angesehen werden, erzählt Behzad dem Knaben Farzad. Doch sein auffälliges Interesse am Befinden der sehr alten, kranken Frau Malek verrät ihn bald. Das Publikum darf sich jedoch rätselnd auf das Warten einstellen und dieses Warten ist erneut ein Kunstwerk. "Warten auf den Tod als einzige Lösung" - es bedarf nicht solch zentraler Sätze, um klar zu machen, dass es um mehr als eine Reportage zu den Bestattungsriten dieser kurdischen Gegend geht.

Kiarostami sagt selbst, er "glaube an eine Art Kino, das dem Zuschauer größere Möglichkeiten bietet und ihm mehr Zeit gibt. Ein Kino, das nur eine Hälfte kreiert, ein unvollständiges Kino, dessen zweite Hälfte der schöpferische Geist des Zuschauers selbst gestalten muss. Diese gehört dem Zuschauer und entspricht jeweils der individuellen Welt des Einzelnen, so dass aus einem Hunderte von Filmen entstehen."

Die vielen Bedeutungen fließen ungemein spielerisch und ungewohnt humorvoll ein. Wie so oft im iranischen Film baut diese Metaphysik auf sehr bodenständige Menschen und Handlungen. Treffend wird Kiarostami als der irdischste aller Filmemacher bezeichnet - auch dies gilt für die meisten seiner iranischen Kollegen. Die zwei Wochen der (Schul-) Prüfungen für den Jungen Farzad und den Journalisten Behzad gewähren uns viele seltene Einblicke iranisch-kurdischen Lebens. Die Tee-Wirtin diskutiert mit den männlichen Gästen die Last ihrer drei Jobs sowie den Wert der Arbeit und verteidigt dabei ihre eigene Form der Emanzipation. Die schwangere Gastgeberin Behzads arbeitet zum Erstaunen des Stadtmenschen sofort nach der Entbindung wieder. Eine andere Frau sieht man nur als riesiges wandelndes Bündel Heu.

So ist dieser neue "Kiarostami" zusammen mit Makhmalbafs "Die Stille" auch als aktuellste Stellungnahme gesellschaftlicher Veränderungen im Iran zu sehen. Obwohl das Dorf nach Meinung der Bewohner eine "Welt der Kommunikation" ist - und auch alle sehr viel schneller Bescheid wissen, als es sich der Fremde vorstellt, sorgt der Städter Behzad mit seinen albernen Handyspurts durch labyrinthische Gassen und mit den wiederholten Autofahrten zum höchst gelegenen (Empfangs-) Punkt für Heiterkeit. Dort unterhält er sich im Gräberfeld immer wieder mit einem Mann, der - tief in der Erde - einen Brunnen oder Telefonleitungen gräbt, und erst sichtbar wird, als die Wände um ihn herum einbrechen. Behzad kann eine Rettungsaktion einleiten und jetzt, als er selbstvergessen in das Leben des Dorfes integriert ist, tut ihm der Tod den lang ersehnen Gefallen.

Ein Film voller Rätsel: Was "empfängt" Behzad oben auf dem Berg von einem unsichtbaren Gräber? Einen Oberschenkelknochen! Spricht hier Gott zu Moses? Oder Shakespeares Narr Yorick verlagert nach Persien? Die entscheidende Prüfungsfrage lautet: "Was geschieht mit den guten und den bösen Menschen am Tag des Jüngsten Gerichts?" Der gebildete Behzad weiß zwar die Antwort, doch der kleine Schuljunge muss ihm sagen, ob er ein guter oder schlechter Mensch ist. Denn wenn sich die Suche nach der so symbolträchtigen Milch entgegen allen Hinweisen und Empfehlungen als extrem schwierig erweist, kann ja was nicht mit dem Suchenden stimmen.

Zwar scheint er bereit, zu warten, doch es gibt übers Handy Druck von der Redaktion in Teheran. Voller Frust dreht er eine Schildkröte, das Symbol der Langsamkeit, auf den Rücken. Sie zumindest kann sich umgehend wieder befreien. Der Suchende fährt nach ein paar Schnappschüssen und mit einem Lächeln im Gesicht fort. Den Knochen wirft er in einen kleinen Fluss und (wie immer in der typischen Dramaturgie Kiarostamis) genießt die Kamera mit erstmals deutlich hörbarer Musik diesen wunderbar erlösenden Höhe- und Endpunkt des Films.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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